archiv hin und her

texte 2014

chronologisch aufsteigend

aktuelles hin und her 

 

 

serie enthüllen 17

Wir fahren den Hund nach Hause

Du machst den Anfang. Den Anfang von was? Was endet immer wieder und wie viele Anfänge folgen noch? Und wozu?

Wir führen einen Hund aus, obwohl wir wissen, ohne es zuzugeben, dass er uns ausführt. Er bestimmt die Pausen, das Tempo und den Weg. Der Hund zieht uns durch den Wald, zwischen Sträuchern und Bäumen hindurch, über ein Brücklein, dann quer durch den Fluss, die Nister, die Sanfte.

Wir reden.

Über Franklin und Freud, nicht darüber, was sie geschrieben haben, sondern wie viel und warum. Darüber, ob eine Neigung zur Geschwätzigkeit Voraussetzung ist für die Schreibe und wie viel Geschwätzigkeit die Schreibe verträgt. Bestimmt die Menge, der Inhalt oder der Zuhörer darüber, ob sich Reden in Geschwätzigkeit wandelt? Ist das wichtig?

Wir reden über Lieben, die kein Ende haben, andere, die keinen Anfang haben, und wieder andere, die zwischen Anfang und Ende gestaltlos bleiben. Darüber meinen wir nur wenige Worte zu verlieren.

Über Väter reden wir, und darüber, ab wann sie welche sind, und über Mütter, die denselben Namen tragen, und darüber, wie ungern wir beschönigen. Wir reden über Grossväter, Grossmütter, Kriegskinder. Bildung, so erfahren wir, verhindert nicht den Krieg, bestimmt aber über den Schutz im Krieg. Wer kommt in den Zug, wer ums Leben? Ist das gerecht? Du denkst das eine, ich das andere. So haben wir es gelernt. Wir schweigen.

Vor einem Felsen bleibt der Hund stehen, weicht zurück, schaut uns an mit einem Blick voller Zweifel.

Wir überlisten den Hund, streicheln den Felsen, ordnen ihn den Guten zu, den Harmlosen. Nur ein Fels. Ein Blassgrauer am Wegrand. Der Hund legt die Zweifel nieder, direkt vor unsere Füsse.

Wir heben sie auf für später.

Der Hund sitzt drüben im Wagen. Wir sitzen hier im Regen. Für einen Moment gehört die Führung uns, damit auch der Weg, das Tempo, die Kartoffelsuppe.

Dann meldet sich der aufgehobene Zweifel. Kaum ausgesprochen vermehrt er sich zu vielen. Du zweifelst, was du schreiben sollst, ich zweifle, ob ich schreiben will. Wir zweifeln, ob wir schreiben können, obwohl wir es schon lange tun. Wir zweifeln, ob die zur Verfügung stehenden Wörter einen Text hergeben, ob der Text zu uns passt und wir zu seinen Wörtern. Du erkennst deine Filme nicht mehr, die ich sehe, und ich meine Texte nicht mehr, die du liest. Du zweifelst bei Absagen, ich bei Anfragen, und wir zweifeln, ob wir überhaupt wer wären oder sein könnten, hätten wir uns nicht zumindest auf Papier ein bisschen redselig gezeigt.

Die Regenwolken ziehen weiter und lassen uns aufgeweicht zurück. Wir erkennen es an den sich räkelnden Gedanken, den sanften Gesichtszügen, dem gewellten Haar, dem vollen Klang der Stimmen. Du lächelst gar. Das behalte ich für mich.

Und wie wir die Zweifel in der Abwesenheit des Hundes liebgewinnen, weil sie uns durch die Welt und Welten jagen, sie unser Zuhause und die Identität verschleiern, und wie wir plötzlich überall von Zweifeln Gejagte und Verschleierte erahnen, darunter solche, die uns mehr als lieb und geläufig sind, da legen sie sich wieder nieder. Direkt vor unsere Füsse.

Wir steigen über sie hinweg. Wir fahren den Hund nach Hause.

Sie werden uns finden.

sarah king, 7. oktober 2016


serie enthüllen 16

Anfang

Wenn ich etwas hasse, dann ist es, einer Situation ausgeliefert zu sein. So wollte ich beginnen. Stimmt auch. Wer mag das schon? Aber genau darum geht es: dass ich mich wieder ausliefern will. Wieder und wieder. Das ist der Anfang. 

Stephan Schoenholtz, 13. Juni 2016


serie enthüllen 15

Der dunkle Fleck retrospektiv und in Echtzeit

Ich setzte mich in ein Bistrot am Hafen. Ein beschriebenes Tischtuch bedeckte den Tisch. Der Text scheint eine Art Protokoll zu sein, eine aussergewöhnliche Momentaufnahme eines Menschen.

8.27 Uhr. Retrospektiv. Ich sitze am Hafen, die Sonne rechts von mir, sie wirft ihr Licht über den alten Dampfer. Für die einen ist sie eine Metapher, für mich ein physikalisches Phänomen, ein durchschnittlicher Stern, ein Kernreaktor, im Sommer bin ich ihr fern, im Winter nah, drehe ich mein Gesicht in ihre Richtung, schmerzt das Licht in meinen Augen, ich setze keine Sonnenbrille auf, sondern wende den Kopf Richtung Dampfschiff. Zwischen ihm und mir sitzt eine Frau. Sie blickt mich an. Die Frau ist etwa 165 cm gross und wiegt 65 Kilos, sie trägt einen schwarzen Wollmantel, einen hellgrünen Seidenschal, ihre Haare sind blond, ungefärbt, zusammengebunden, das Gesicht ist hübsch, fast austauschbar, wären da nicht zwei vertikale, 3 cm lange Furchen zwischen den Augenbrauen. Ich zähle die Neunerreihe von 900 rückwärts ohne nachzudenken, also bin ich noch bei Verstand. Dennoch das Unerklärliche.

8.20 Uhr. Retrospektiv. Ein dunkler Schleier legt sich über alles, verhüllt die Sonne, das zuvor weisse Tischtuch ergraut, den Blick der Frau spüre ich mehr, als dass ich ihn sehe. Ich höre mich zu ihr sagen: „Ein Sturm zieht auf. Alles wird schwarz.“ Sie lacht und setzt die Sonnenbrille auf. Ihr Lachen ist echt, denn sie unterdrückt ein Glucksen und denkt, ich merke es nicht.

8.32 Uhr. Echtzeit. Die Frau steht auf und kommt auf mich zu. Die Furchen zwischen ihren Augenbrauen verringern ihre Distanz. Ich höre es am Unterton ihrer Stimme. „Sie!“. Ungläubig, anklagend. Dieses langgezogene „i“, das fast unmerklich in ein „ü“ übergeht. „Siiüüe!“ Ist da noch eine Spur Abschätzigkeit? Nein, sonst wären die Furchen geglättet. Das Äussere der Frau nehme ich nunmehr als einen dunklen Schatten wahr. Sie räuspert sich. „In Ihrem Gesicht breitet sich ein dunkler Fleck aus. Wie ein überdimensionales Muttermal.“ Mein Gesicht drückt wohl staunende Ratlosigkeit aus. Dieses untrügliche Merkmal eines Menschen, der zur Sonne spricht. Jedenfalls nimmt die Stimme der Frau einen sehr sanften Klang an. „Darf ich?“ Sie tastet mein Gesicht ab. Ich geniesse das ungewohnte Gefühl der Berührung und seufze aus Wohlgefühl. „Man muss es aufhalten“, höre ich sie murmeln. Während ich „nein“ sage und ihre Bewegungen kurz stocken, merke ich, dass wir nicht vom selben sprechen. Also schweigen wir.

8.37 Uhr. Echtzeit. Sie stellt eine wichtige Frage: „Tut es weh?“ Seltsamerweise spüre ich ihre Hände an meinem Gesicht nicht mehr, ich verspüre auch keinen Schmerz, im Gegenteil, je dunkler es um mich herum wird, desto dumpfer werden meine Sinne. Wo ende ich, wo beginnen der Stuhl, die Hände der Frau, die Kaffeetasse an meinen Lippen? Was einst abgegrenzt war, wird grenzenlos.

8.40 Uhr. Echtzeit. Ich höre die Frau Strategien aufzählen, wie sie mein ausuferndes Muttermal eindämmen könnte. Es fallen Begriffe wie „Messer“, „Arzt“, „liegen“. Zu diesem Zeitpunkt störe ich mich nicht mehr an all dem Dunkel, das mich umgibt. Die Strategien ziehen wie ein plätschernder Bergbach an mir vorbei. Ich bin betört. Betört vom Gefühl der Grösse, die ich im Zuge der auflösenden Grenzen einnehme. Alles, was die Frau sagt, kann in Relation zu meinen unendlich wahren Gedanken nur bedeutungslos sein.

9.55 Uhr. Echtzeit. Die Frau trübt mein Wohlgefühl, denn sie schreitet zu Taten. Mit einem Messer schneidet sie mir auf der Höhe meines linken Auges ein Loch in den dunklen Fleck. Der Lichteinfall bringt mich zum Weinen, obwohl ich nicht traurig bin. „Machen Sie den Fleck wieder zu“, befehle ich. Ihre Antwort lässt nicht warten. „Zu spät.“ Erstaunt stelle ich fest, dass sich ihre Mundwinkel ein paar Millimeter heben. Aus dem linken Augenwinkel sehe ich Tischtücher im Wind flattern. Ich bin entzückt ob deren Lebendigkeit. Noch mehr vermögen mich die Tischbeine darunter zu entzücken. An ihren Enden sind runde Eisenplatten befestigt, die sich dunkel vom weissen Pflasterstein abheben. „Das eine gehört zum Tisch, das andere zum Boden“, sage ich laut.

10.05 Uhr. Echtzeit. Die Freude währt nur kurz. Der Verlust mindestens zweier Zentimeter meiner Selbst lastet schwer. Die Frau präsentiert das herausgeschnittene Stück „Dünkel“ auf ihrem Zeigfinger. Mich schaudert. „Das ist erst der Anfang“, sagt sie. Wie lange es denn noch dauere, will ich wissen. Sie zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung. Den Rest überlasse ich Ihnen. Meine Zeit ist beschränkt.“ Ich bin sprachlos.

10.07 Uhr. Echtzeit. Die Frau legt das Messer vor mir auf den Tisch und will mir den Kugelsch–

Ich fragte den Kellner, ob er sich an den Herrn erinnere, der vor mir an diesem Tisch gesessen hatte, der Herr mit dem grossen dunklen Fleck im Gesicht. Der Kellner blickte mich mit staunender Ratlosigkeit an. Er verstand nur seine eigene Muttersprache und ich nur meine und die eine hat so wenig mit der anderen zu tun, dass uns vermutlich eine Konversation mit der Sonne einfacher gefallen wäre.

Ich trank meinen Kaffee und verliess das Bistrot mit dem Tischtuch-Protokoll, das du nun in den Händen hältst. Ich hoffe, es erreichte dich innerhalb des Zeitraums, den du als Weilchen bestimmst.

sarah king, 7.4.2015



serie enthüllen 14
Abschied, zigarettenlang
Du gehst, ich bleibe. Du hast mich nicht gefragt mit dir zu kommen. Manchmal darf man nicht höflich sein, sonst kommt man nie weg. Die Menschen kommen und gehen ohnehin, es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Der Koffer steht immer schon im Flur. Die Wenigsten legen ihre Sachen in den Schrank, gegenüber vom Bett. Du bist länger geblieben als ich erwartet hätte. Du hast dir Zeit genommen die Dinge mehrfach zu sehen. Das alltägliche Ritual von Kaffee und Zigaretten. Wir haben zusammen geraucht, wie in der Sendepause, auch an freien Tagen. Du warst immer schneller als ich. Ich habe die Wettervorhersage geschaut, dich im roten Kostüm. Ich war eifersüchtig, dass du so freigiebig warst mit deinen Händen. Sie kamen gut zur Geltung. Worauf sie zeigten, die Wolken und Winde und Hochdruckgebiete, interessierte mich nicht. Ich hätte es gemocht, wenn du im Kostüm nachhause gekommen wärst. Hätte es dir langsam abgestreift. Jetzt hängt es in der Garderobe, und ich sitze hier in der Küche. Fast dachte ich „unsere Küche“. Oder bist du darin zum Flughafen gefahren, gleich nach Sendeschluss, und in den Flieger gestiegen wie eine Stewardess? War es so eilig? Immerhin hast du geschrieben. Ein Abschied in Worten, in Gedanken. Noch eine Zigarette, die letzte für heute. Komm wieder mal vorbei. Ich bleibe noch ein Weilchen.
Stephan Schoenholtz, 3. Februar 2015

serie enthüllen 13
Alberto bleibt
Der unsichtbare Kirchturm schlägt sieben, noch fast Nacht, die Fenster angeschlagen, in der Tasse ein Rest kalter Kaffee vom Vorabend, dasselbe Lied im Wiederholungsmodus: Sollst meinen Tritt nicht hören, sacht, sacht die Türe zu. Auf dem Küchentisch das Paket von ihr, ein gelber Flieger aus Papier, selbst gefaltet, von ihren kleinen Fingern, die niemand kannte ausser er, weil die Menschen ihr nur ins Gesicht schauten, auf ihren Mund, wenn sie sprach, wenn sie lachte, obwohl keiner lustig war. Wie froh er war, dass niemand sie bemerkte, die Finger, dass ihr Anblick ihm vorbehalten war, wenn auch er die Hand dazu selten sah, nur spürte, dann und wann. Aus dem Paket lugt das Stück Papier, die flüchtig gekritzelten Worte: Im Flieger war ein Platz frei, nicht in einem gelben, aber in einem weissen mit grünen Flügeln, er flog so weit, dass ich unterwegs vergass, woher ich kam. Ein vages Bild vor Augen: du in der Küche, unrasiert, das angeschlagene Fenster, den Blick auf den unsichtbaren Kirchturm gerichtet, in der rechten Hand die Zigarette, in der linken eine Tasse kalter Kaffee. War da noch mehr? Wie schön du bist, Alberto, in diesem Bild. Wie einfach sie geht. Ein Kind, das weint. Es ist wohl ihres oder seins oder eins von nebenan. Lass irre Hunde heulen. Er will jetzt rauchen, ungestört, den Rauch an die angeschlagene Scheibe blasen, sich noch eine zweite drehen und eine dritte. Der Klang des Kindes mischt sich mit dem Lied, wie einfach das geht, ohne die Harmonie zu trüben, bleiben, wenn sie kommt, bleiben, wenn sie geht.
Sarah King, 2.1.2015

serie enthüllen 12
Richtungswechsel
Sie schlüpft aus dem roten Jackett, hängt es über den Bügel. Sie streift die Schuhe ab, der Druck lässt nach. Unnötige Schmerzen, denkt sie, während sie mit kühlen Fingerspitzen die warmen Stellen unterhalb der Knöchel massiert. Kein Zuschauer kann ihn sehen, den roten Lack. Während sie die weisse Bluse aufknöpft, betrachtet sie die Wolken, die nass und schwer herabhängen, gerade so, wie sie es angekündigt hat. Ein Tiefdruckgebiet, das alles abdeckt, jeden Zipfel des kleinen Landes, das Studiogelände eingeschlossen und das merkwürdige Niemandsland, durch das sie beinahe täglich hierher fährt, vorbei an halben Wohngebieten, unfertigen Neubauten und Grünflächen, die so künstlich aussehen, dass der Wechsel ins Studio mit seinen Lichtern und Kabeln und den glatten Oberflächen weniger abrupt ist, als man denken könnte. Während der Vorhersage hat sie an den Flieger gedacht, der sie abends aus der Wolkenhülle tragen würde. Die Luft in der Umkleide ist kühl. Schnell steigt sie in das kräftige Blau ihrer Jeans und zupft den orangen Wollpulli zurecht. Im Süden wird sie nichts von all dem brauchen. Falls das ihr Ziel wird.
Noch einmal schaut sie zurück. Anfangs kam ihr das Kostüm zu weit vor, obwohl es ihr auf den Leib geschneidert worden war. Bei den Aufnahmen sass sie darin wie in einen Fremdkörper, der Abstand hielt, einen winzigen Hohlraum zwischen Körper und Stoff. Als die Kleider ihr vertrauter wurden, entdeckte sie die Möglichkeit sich darin zu verstecken. Das Studio wurde zu ihrer Bühne und sie begann das Licht auf ihrem roten Jackett zu geniessen, wie eine Schauspielerin ihre Auftritte geniessen musste. Zuletzt war der Stoff schwer geworden wie ein nasses Fell, und es würde sie nicht erstaunen, wenn es aus dem Kostüm auf die hochhackigen Schuhe herabtropfen würde.  
Sie zieht ihren Koffer zum Aufzug, durch das Foyer auf den Parkplatz hinaus, über den regendunklen Asphalt, hievt ihn in den Kofferraum. Sie lässt die Fernsehstrasse hinter sich. In wenigen Kilometern wird sie am Flughafen sein. Drei Wochen lang keine Moderation, keine Mässigung, keine vornehme Zurückhaltung für das elektronische Auge der Kamera oder die müden Augen ihrer Zuschauer. Sie weiss noch nicht, wohin sie fliegen wird. In welches Klima, welche Zeitzone, welche Sprachregion. Sie wird spontan entscheiden, vor der Zeittafel oder am Schalter. Ein gelber Flieger würde ihr gefallen.
Stephan Schoenholtz, 23. November 2014

serie enthüllen 11
Richtung Norden
Der Flieger, gelb, schwebt vor dem Fenster, eine Armlänge von uns entfernt, dazwischen die Scheibe. Hinter uns die Uhr an der Wand, ihre Zeiger zeigen Richtung Norden. Du: Wie immer.
Der Flieger schwankt. Du reichst mir ein Taschentuch, weiss und zart. Ich gebe es dir zurück. Du: Brauchst du es nicht? Langsam segelt es zu Boden, bleibt zwischen uns liegen. Du: Seltsam.
Der Flieger sinkt ein paar Zentimeter, sein Propeller streift die Scheibe. Du: Und jetzt? Ich nehme die Uhr von der Wand, setze Batterien ein. Der Zeiger springt zum nächsten Strich.
Die Moderatorin im Fernsehen verkündet das Wetter. Wie ein Land präsentiert sie sich, das Kostüm rot, das Hemd weiss. Ich schalte das Gerät aus, trete ans Fenster. Auf dem Boden ein Taschentuch. Seltsam, denke ich.
sarah king, 25. Oktober 2014

serie enthüllen 10
Hinter der Scheibe
Noch ein Laden, dann war er fertig für heute. Wenn sie Abendschicht hatte, würde er nicht einmal reingehen, ein kurzer Blick genügte für die schmale Fläche, das Halbrund aus Regalen und Kühlfächern. Zum Glück stand die Kasse direkt neben den automatischen Klapptüren an der Glasscheibe, so dass er von Weitem sehen konnte, wer den Tagesabschluss machte. Er verlangsamte seine Schritte, als er sie an ihrer Haltung erkannte, steif und irgendwie unnatürlich. Es war ein angenehmer Abend gewesen. Der Geruch der warmen Strassen war bis ins Bahnhofsgebäude geweht und hatte gute Laune verbreitet. Langsam waren die Bewegungen in den Geschäften zum Stillstand gekommen, er freute sich darauf nachhause zu fahren, entspannt und ohne irritierende Gedanken. Es wusste selbst nicht, warum er sie mied. Vielleicht lag es einfach am Aussehen, das spielte immer eine Rolle, der schnelle erste Eindruck halt, über den er bei seinen Runden kaum hinauskam. Als Security war er befugt dazu Menschen anzuschauen, das war seine Aufgabe, und manchen sah er lieber zu als anderen. Trotzdem erging es ihm mit niemandem so wie mit der hageren Verkäuferin vom Minimarkt. Er hatte noch kaum zwei Worte mit ihr gewechselt, kannte nicht einmal ihren Namen.
Wie zu erwarten verlor sich nur noch ein Kunde zwischen den Kühlregalen am Ende des Korridors, Typ Anzug mit Rollköfferchen, ein Pendler von Bern nach Zürich vermutlich. Harmlos genug, da gab es nichts weiter zu tun, ein knappes Klopfen an die Scheibe genügte. Er liess die Fingerknöchel zweimal aufschlagen, weniger definitiv, als er beabsichtigt hatte, und warf der Kassiererin einen Blick zu ohne sie direkt anzuschauen, eine Technik, die er bei der Arbeit perfektioniert hatte. Gleichzeitig registrierte er, wie der Kunde sich kurz zu ihm umdrehte, mit hochgezogenen Brauen. Die Kassiererin hatte den Kopf gehoben, er hielt den Daumen hoch, Versicherung und Abschied zugleich. Dann bemerkte er ihr Handzeichen, die kleine Bewegung ihres linken Handgelenks, mit der sie ihn hereinwinkte. Er seufzte, es half nichts, ein Schritt auf die Tür zu, die schwerfällig aufklappte, und weiter in das Neonlicht des Ladens hinein.
In der dickflüssigen Luft begann er sofort zu schwitzen. Als er ihr „Hallo“ erwiderte, kam er sich wie ein Schauspieler vor, obwohl er versuchte, es mit der üblichen Selbstverständlichkeit zu sagen. Sie sah ihm zu, wie er ein paar Schritte machte und sich in der Nähe der Kasse aufstellte. Wie auf den meisten Verkaufsflächen hatte er auch hier seinen Standort, und er ärgerte sich über die eigene Unsicherheit. Als wisse er nicht recht wohin mit sich. Sie nickte leicht. „Und, guten Tag gehabt?“ „Bisher schon.“ Da stand er nun, obwohl es nicht den leisesten Anlass dazu gab. Er konnte so was schliesslich beurteilen. Er machte eine Kopfbewegung zu dem Kunden hin, der immer noch in der Ecke des Ladens stand, sein Jackett über die Schulter geworfen. Aber sie hatte sich wieder über die Abrechnung gebeugt. Musste er die Sache eben selbst in die Hand nehmen. Der Mann hörte ihn nicht näherkommen. „Wenn Sie jetzt zur Kasse gehen würden...“ Das Lächeln traf ihn unvorbereitet, der nachsichtige Blick über die schmale Brille hinweg. Der Mann schaute auf seine Armbanduhr. „Sie haben Recht. Einen Moment.“ „Der Moment ist vorbei, tut mir leid.“ Wieder ein Blick über die Brille, jetzt ohne Nachsicht. Er zeigte zur Kasse. „Die Kollegin wartet.“ Eine Sekunde lang glaubte er, der Mann würde sein Jackett fallen lassen und ihn anspringen, alle seine Muskeln spannten sich, bis in die Fingerspitzen. „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“ Ihre Stimme klang freundlich, eine wirkliche Frage. „Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann...“ „Danke. Ich habe alles.“ Der Geschäftsreisende nahm eine Dose mit Erdnüssen und ging auf die Kasse zu, ohne ihn noch einmal anzusehen. Sie bediente ihn mit einem Lächeln, ruhig und selbstverständlich. Die Tür schnappte hinter dem Rollköfferchen zu. Die Sache war erledigt, er konnte ebenfalls gehen.
„Ärgern dich solche Typen?“ Ihre Hände sortierten verschiedene Kassenzettel, während sie ihn ansah. „Normaler Weise nicht.“ Sie hatte dunkelbraune Augen, sehr helle Haut, eine verschwitzte Stirn. „Ich dachte, euch kann nichts aus der Ruhe bringen.“ Auch jetzt hielt sie sich sehr gerade. Ihm fiel auf, dass hinter der Kasse eigentlich kein Platz für einen Hocker war. „Und dir macht das nichts aus?“ Sie spitzte ihre Lippen und liess die vielen kleinen Risse darauf verschwinden. „Ich weiss nicht... ich bin’s halt gewöhnt.“ Nacheinander steckte sie alles in eine schwarze Lederschatulle, die Scheine und Münzrollen und alle Papiere, die sie zusammengeheftet hatte. „Nett, dass du reingeschaut hast.“ Er zuckte die Schultern. „Ich dachte, es gäbe ein Problem.“ „Wegen dem Typen?“ „Weil du mich reingewinkt hast.“ Sie stand auf. „Ich wollte mal mit dir sprechen. Sehen tun wir uns ja oft, so im Vorbeigehen. Du bist der Mann hinter der Scheibe.“ Sie lachte, nahm die Schatulle und öffnete ein Fach neben der Kassenlade. Die Karte war mit zwei Klebestreifen darauf geklebt. Eigentlich war es ein Foto. Ein Platz vor einer alten Kirche, eine niedrige Mauer im Schatten von Platanen, ein älteres Paar. Er starrte in den Halbschatten, die Sonnenflecken auf dem Kopfsteinpflaster, die Häuserzeile im Hintergrund. Ein schwacher Wind versetzte die Baumschatten in Bewegung und verwehte den Klang der Glocken. Dann ging das Licht aus und das Bild verschwand. Sie wartete schon an der Klapptür. „Alles in Ordnung?“ Er nickte und ging mit ihr hinaus.
„Na dann, schönen Abend noch.“ Er merkte, wie er ihr die Hand entgegensteckte. „Hat mich gefreut. Mirco.“ Sie nahm seine Hand, amüsiert. „Birgit. Bis zum nächsten Mal.“ Sie wandte sich der Tür zu, und er entfernte sich langsam, Schritt für Schritt, bis er merkte, dass er in die falsche Richtung ging. Er blieb mitten auf dem Trottoir stehen. Er hätte sie fragen sollen, fragen, ob es ihr Foto war. Ihre Eltern vielleicht. Ob sie den Ort auch so gut kannte, diese winzige Stadt in Ostdeutschland, in der er seit Jahren nicht mehr gewesen war. Er würde sie fragen. Beim nächsten Mal.

Stephan Schoenholtz, 18. Oktober 2014

serie enthüllen 9

Der schönste Moment
Er zieht die Schultern hoch, fünf Zentimeter, lässt sie sinken,
mit ihnen seinen Blick, rechts neben seinem Bein vorbei zu einer Ritze im Fussboden, drei Sekunden, holt Anlauf, schaut links an ihr vorbei,
neigt den Kopf nach links, Dreissig-Grad-Winkel, lässt die Gedanken zusammenfliessen, bringt den Kopf wieder in eine Gerade mit seinem Hals,
öffnet den Mund, fünf Millimeter, zieht den linken Mundwinkel hinunter, drei Millimeter, spannt ihn wie einen Pfeil am Bogen, vier, sechs Millimeter, lässt den Winkel wieder hochschnellen,
vor dem ersten Wort ein Räuspern, siebzehn Wörter als Anhang, zwei Sätze ohne Komma, und noch bevor sie bei ihr ankommen,
schweift sein Blick zurück, haftet sich an ihr Kinn, eine Zehntelsekunde, klettert ihrem Nasenbein entlang zu ihren Augen,
wie beim Staffellauf, die Übergabe (der schönste Moment),
sie senkt den Blick auf ihre Knie, zwei Sekunden, holt Anlauf, schaut auf, über sein Gesicht hinweg, rechts an seinem Ohr vorbei, zum Türknauf,
wandert mit den Augen der Türfläche entlang nach oben, fünfzig Zentimeter, drapiert sie mit ihren Gedanken,
liest diese auf dem Rückweg ab, wie von einem Prompter, drei Sätze mit Strichpunkten,
verweilt schweigend auf seiner linken Augenbraue, eine halbe Sekunde, auf der Iris seines rechten Auges, fünf Sekunden, seinem Mund und endet bei ihren Knien.
So berechnen sie sich im Kreis. Mit einer vagen Idee voneinander, auf der Suche nach einem Eingang.
sarah king, 1. august 2014


serie enthüllen 8

Vor dem Gewitter
Ich male schneller als früher. Selten vergeht mehr als eine Stunde, vom Mischen der Farben bis zum letzten Pinselstrich. Dabei muss ich das Motiv nicht unbedingt vor Augen haben, auch das hat sich geändert. Ich muss nicht in den Garten gehen oder die Staffelei (den Notenständer meiner Tochter) ans Fenster rücken. Es genügt, dass mir etwas in den Sinn kommt, vor mein inneres Auge. Dann gehe ich ins Kinderzimmer, wo die Farbtuben lagern und die Leinwände auf Vorrat stehen, und lege gleich los, unverzüglich. Wer weiss, wie lange das Bild bleibt, das mir gerade vorschwebt. Hoffentlich sind die Pinsel nicht eingetrocknet. Das Auswaschen kann dauern, und ich habe keine Zeit. Zum Glück stehen die meisten im Wasser, auf dem alten Schreibtisch. Ich kann den Pinsel eintauchen, die Farbe umschliesst die Haare und macht sie schwer. Ganz natürlich zieht es sie auf die Leinwand, ziehe ich sie darüber, Streifen um Streifen. Ich hätte vorzeichnen sollen, mit Bleistift, war zu ungeduldig. Müssen die Details eben aus dem Grossen und Ganzen entstehen, aus dem Ungefähren. Erst einmal den Boden einziehen, das Granitgrau das Pflastersteine, die Hauswände darin verankern, sie mit Himmel umgeben, bis das letzte Fleckchen Leinwand bedeckt ist. Jetzt kann das Haus Fenster bekommen, kleine Fenster, eine Haustür, zu der ein paar Stufen hinaufführen, ein hohes und breites Scheunentor. Es bleibt ein schlichtes Haus, darauf kommt es nicht an. Es geht um das Paar davor, ein altes Ehepaar, Hand in Hand. Ich muss den Pinsel wechseln, sonst werden sie klobig, und das sollen sie nicht sein, bloss stabil, standhaft. Sie könnten die Wolken über sich berühren, ich habe sie zu gross gemacht, beinahe so hoch wie das Haus, vor dem sie stehen. Ihr ganzes Leben haben sie in diesen Mauern verbracht. Obwohl sie in die Jahre gekommen sind, haben sie keinen Stock nötig. Sie stehen sicher auf dem unebenen Pflaster. Neben ihnen sitzt ein Hund mit langem braunen Fell. Er reicht der Frau bis zur Hüfte, sie lässt ihre freie Hand auf seinem Kopf ruhen. Noch haben sie keine Gesichter. Grobe Züge könnte ich ihnen geben, die Idee eines Gesichts. Aber was sie ausmacht, liegt nicht dort. Das dachte ich lange. Hellbraune Augen, die Narbe an der Schläfe, Sommersprossen bis auf die Stirn, so habe ich mich gesehen. Dabei bestehe ich aus Partikeln, die zu klein sind, um sie mit blossem Auge zu erkennen. Aus winzigen Zellen, die sich auflösen. Die ausfallen oder zerfasern, einschlafen, aus der Fassung rutschen oder zerspringen, zu Hunderten und Tausenden. Sie lösen mich auf. Das hat der Arzt nicht gesagt, das stelle ich mir so vor. Sie hinterlassen Löcher und Lücken in mir, die niemand sehen kann. Ich dachte, die Welt verändere sich, dabei bin ich es, die sich verändert. Trotzdem. Ich versuche, ihnen ein Gesicht zu geben, die Andeutung eines Gesichts. Eine weiche Linie für die Lippen des Mannes, einen Schatten um die Wangen der Frau. Sie hat ihre Augen geschlossen. Ein leichter Wind geht, die Wolken ballen sich. Auf dem Dach schimmern erste Regentropfen. Der Hund wird unruhig. Gleich werden sie zurück ins Haus gehen.
Stephan Schoenholtz, 5. Juli 201

serie enthüllen 7

Miniportiönchen

Du bist ein Mosaik, zerlegt in kleinste Einzelteile. So auf den ersten Blick erinnerst du an die ganze Person, die du warst, von oben bis unten ein fliessender Übergang, wie ein Pinselstrich.

Dann dachtest du „irgendwas muss da in mir sein“ und du rufst und sagst das so, „irgendwas“, und du wolltest es ganz genau wissen, „vollständig überprüfen“ eben, und eigentlich sagst du es nicht, du tönst es durch den leicht geöffneten Mund an, ohne die Zunge zu benutzen. Sie klebt am Gaumen, als ginge sie das Ganze nichts an, nur weil sie keiner deiner über zweihundert Knochen ist, sondern ein Stück muskulöses Fleisch.

Jetzt wo du es sagst, dass da vielleicht etwas ist in dir, so vollständig überprüft, da verschwindet die Idee des fliessenden Übergangs, der Strich zerfällt in kleine Punkte, wie von einem ausgeleierten sprödhaarigen Pinsel hingewuselt. Du hast dich in Miniportiönchen zerlegt, in ein Puzzle, ein Mosaik eben.

„Und ist da was?“, fragt man dich, und zieht ein Trümmerteilchen aus deinem Bein, ein anderes aus deinem Gesicht, dreht die Teilchen im Licht, das durch die Scheibe fällt, entzückt fast, ob diesen Stücklein Mensch zwischen den Fingern, zieht mit Neugier mehr davon aus deinem Körper, immer mehr, trägt dich hundertfach auf Händen, dann setzt man die Teilchen wieder ein, aber an einem anderen Ort, macht dich neu, nur die Zunge ist noch am selben Ort und klebt am Gaumen.

sarah king, 27.4.2014


serie enthüllen 6

Auf Samtpfoten

Robert hat mich besucht, die zweite Nacht in Folge, ich beginne mir Sorgen zu machen. Normalerweise würde mich so etwas freuen, ein Zeichen von Nähe und Vertrauen. Aber mein Kater tut das sonst nie, und wir leben nicht erst seit gestern zusammen. Sieben Jahre ist es her, dass ich ihn aus dem Heim befreit habe, mit nicht viel mehr als seinem orangeroten Fell auf den Rippen und keinen besonderen Aussichten auf ein langes Leben. Ich hatte mir ein Tier gewünscht, das Wohnung und Leben mit mir teilt. Aber Robert ist nur zu den Mahlzeiten regelmässig aufgetaucht, ansonsten ist er unberechenbar und scheu geblieben. Vorgestern habe ich zum ersten Mal seine Pfoten auf der Bettdecke gespürt, in der Mulde zwischen den Füssen. Ich hielt ganz still in der Hoffnung, er würde sich dort zusammenrollen. Er balancierte über mein rechtes Bein und den Bauch bis hoch zu den Rippen, wo er sich mitten auf mein Brustbein legte. Da lag er wie eine Sphinx, die Vorderpfoten angewinkelt, und schaute mir direkt in die Augen. Das irritierte mich mehr als sein Gewicht, das ich mit jedem Atemzug heben musste. Es dauerte nicht lange, bis ich eine Hand unter seinen Bauch schob und ihn zurück ans Fussende setzte, von wo aus er sogleich auf meinen Brustkorb zurückkehrte. Ich hob ihn kurzerhand vom Bett, er verliess das Zimmer und ich hatte das Gefühl, dass die Sache damit erledigt war.

Gestern ist es dann wieder passiert. Zwei Freunde hatten mich eingeladen, ein Essen zu meinem Vierzigsten, den Vorfall der vorangehenden Nacht hatte ich fast vergessen. Kaum hatte ich mich im Bett ausgestreckt, landete Robert schon auf der Decke und lief schnurstracks über mich hinweg, eine Kompassnadel könnte nicht genauer sein. Wenn er wenigstens die Augen abgewendet hätte, aber er sah mich unverwandt an. Gerade über meinem Herzen hockte er. Jetzt habe ich Angst. Ich muss an Oscar denken, den Kater von Rhode Island, an seine Besuche bei kranken Patienten. Vierzig Jahre, sollte es das gewesen sein? Natürlich lebe ich noch, aber was will das schon heissen? Heute habe ich Robert bei den Pfoten genommen und ihn gefragt: „Was willst du mir sagen, mein Lieber?“ Ich könnte ihn aussperren, doch das käme mir wie ein Ausweichen vor. Vielleicht will er mir helfen dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Wahrscheinlich sollte ich zum Arzt gehen, auch wenn ich mich gesund fühle. Man kann nie wissen. Es ist lange her, dass ich vollständig überprüft wurde. Irgendetwas muss da sein in mir. Ein Geheimnis oder ein unerforschter Teil, der mir entgeht und der ausfindig gemacht werden will.

Stephan Schoenholtz, 2. März 2014


serie enthüllen 5

Warum er nicht mehr aufwachte, nachdem er gestorben war, und damit ein Schnippchen schlug

Er ging zum Wagen, beugte sich leicht vor und verschwand. Nicht ganz mühelos, wie ihm schien, war er doch um die Hüfte herum gewachsen. Er sank tiefer in den Sitz als sonst und kippte leicht nach rechts, damit er die Türe schliessen konnte, dann nach links, um die Handbremse zu lösen.

Bevor er den Zündschlüssel drehte, verschnaufte er. Der Wagen sprang nicht auf Anhieb an, ruckelte sogar auffällig lange, als wäre er müder als auch schon. Das fand er nett. Er hatte sich immer ein Auto gewünscht, das müder war als er selbst, ein bisschen kleiner auch und älter. Als das Auto ansprang, klopfte er zärtlich auf das Armaturenbrett, stiess dazu einen bewundernden Pfiff aus und wie er so pfiff, merkte er, dass sein Pfiff dünn klang.

Er drehte sich nach der Frau um, die winkend in der Tür stand und fragte sich, wie es kam, dass sie jeden Morgen dort stand und winkte. Er überlegte, ob er ausnahmsweise zurückwinken sollte, entschied dann aber loszufahren, damit er im Laden war, bevor er zusammenbrechen würde, weil er sich das einfacher vorstellte, als mitten im Verkehr vornüber über das Steuerrad zu kippen, zumal zwischen Rücklehne und Steuerrad nicht besonders viel Platz übrig war zum Kippen.

Es war dann angenehmer als gedacht, das Zusammenbrechen, es tat nicht weh. Er spürte, wie sein Herz ruckelte, fast wie der Wagen, ein leichter Schwindel erfasste ihn, als wäre er beschwipst, die Köpfe der Mitarbeiter verzerrten sich zu undefinierbaren Skulpturen. Dann rang er nach Luft, ein neuartiges Gefühl: um etwas ringen. An Klitschko musste er denken und an Boxhandschuhe. Er hob seine Linke, die fiel schlaff zurück auf den Boden, mit der Rechten versuchte er es gar nicht erst. Über das Winken lohnte es sich also nicht weiter nachzudenken. Über anderes auch nicht, denn offenbar war er jetzt ein Gut zur freien Benutzung. Sie knöpften sein Hemd auf, formten, drückten und bogen ihn, sie sprachen mit ihm, später zu ihm und noch später über ihn und – das fand er aussergewöhnlich – sie entledigten ihn zuerst von den Socken, dann vom Rest. 

Wie er so entledigt von allem inmitten dieser Menschen lag, stand er unauffällig auf, überliess die anderen dem Entledigten, spazierte gemütlich zu seinem Wagen, drehte den Zündschlüssel, stiess einen lauten Pfiff aus und fuhr ohne zu ruckeln und ohne zu winken davon. Das, so vermutete er, war wohl der Grund, warum sie im vorangegangenen Text meinten, er sei gestorben, ohne noch einmal aufzuwachen. Denen hatte er ein Schnippchen geschlagen.

sarah king, 26.1.2014


serie enthüllen 4

Sekundenflug

Sie hätte ihn sehen können, hatte es aber nicht gewollt. Wie jeden Morgen hatten sie sich an der Haustür verabschiedet. Seitdem sie den Anruf erhalten hatte, dass er bei der Arbeit zusammengebrochen war, und man ihr bei der Ankunft im Krankenhaus mitgeteilt hatte, er sei soeben gestorben ohne noch einmal aufzuwachen, hatte sie den Moment wieder und wieder erinnert: wie er zum Wagen ging, sich leicht vorbeugte und darin verschwand. Das Gefühl seines Körpers, der sich entfernte, als sei er ein Teil von ihr selbst. Sie wollte es auf keinen Fall durch ein anderes ersetzen, bei dem er nicht mehr der gewesen wäre, mit dem sie sechs Jahre lang zusammengelebt hatte. 

Erstaunlich, wie wenig sein Körper sie irritiert hatte. Er hatte so gar nicht ihren Vorstellungen entsprochen. Nebeneinander auf dem Sofa überragte sie ihn um wenigstens einen Kopf. Unmöglich sich in der geplanten Weise an ihn zu schmiegen. In seinen kurzen kräftigen Fingern konnte sie ihre Hand nicht verschwinden lassen.

Trotzdem war er genau richtig gewesen. Er hatte ausgedrückt, was ein Körper für sie ausdrücken musste. Ob er neben ihr lag oder vor ihr stand, ob er sich von Weitem näherte oder die Strasse herunter entfernte, er nahm Raum ein, hatte Gewicht, eine Linie. Besonders liebte sie es, wenn sein Bauch zum Vorschein kam, Knopf für Knopf, die feinen dunklen Härchen, die breiten Hüften. Ihren Kopf in diesen Bauch zu drücken.

Sie konnte nicht glauben, dass er nicht mehr da war. Er gehörte zu ihrer Wirklichkeit wie das Bett, in dem sie geschlafen hatten, wie das Schlafen selbst, der Wechsel von Tag und Nacht. Ohne seinen Körper verloren alle Dinge ihre Substanz, sie wurden durchlässig und fremd.

Als sie nach dem Regen spazieren ging, musste sie daran denken, wie sie zusammen über Pfützen gesprungen waren. Dabei hatte sie nach unten geschaut und kurz ihr Bild gesehen: sie beide, Hand in Hand und mit gestreckten Beinen, zwischen Himmel und Erde.  

Stephan Schoenholtz, 15. Januar 2014


serie enthüllen 3

Über Pfützen springen

Sie sass in einer Bahnhofshalle und wartete auf einen Zug. Warten fiel ihr leicht. Sie hätte schon vor einer oder zwei Stunden in einen Zug steigen können, der sie hier weggeführt hätte. Vielleicht hätten Landschaftsmerkmale verraten, wo sie sich befand.

Im letzten Zug ist sie eingeschlafen und erst aufgewacht, als ein Mann in orangem Leuchtkleid an ihrer Schulter rüttelte. Er sprach eine ihr womöglich nicht angeborene Sprache, vielleicht war sie in einem fremdsprachigen Land. Im Fenster spiegelte sich der dicke Bauch des Mannes. Neben dem dicken Bauch sah sie ihr Gesicht. Sie musste der Versuchung widerstehen, mit ihrem Kopf gegen den grossen Bauch zu stossen, ihn leicht zu rammen und sanft wieder wegzuspicken. Eine weisse Speichelspur durchzog ihr Gesicht vom linken Mundwinkel bis zum Kinn. Die Spur war trocken. Sie musste sie im Schlaf gelegt haben. Mit dem Ärmel wischte sie sie weg, so gut es ging. Sie fühlte sich ganz unbestimmt und war froh darüber.

Der Mann fragte nach ihrem Zielort, sie befinde sich inzwischen in einem Rangierbahnhof. Sie verstand, was er sagte, konnte aber immer noch nicht einschätzen, ob er in ihrer eigenen oder in einer fremden Sprache sprach. Bevor er verraten konnte, wo sie war, schlüpfte sie in ihre Schuhe, griff nach der Tasche und kletterte aus dem Zugfenster. Sie hätte den Zug auch durch die Tür verlassen können, dann hätte sie jedoch den Mann bitten müssen, einen Schritt zur Seite zu treten, damit sie an seinem Bauch vorbeikam. Bei dieser Gelegenheit hätte sie sich sprechen gehört und erraten, woher sie kam, was im Widerspruch stand zum Gefühl von Unbestimmtheit. Darum das Fenster.

Sie war ungelenk, was sie den was-weiss-sie-wie-vielen Stunden Schlaf zuschrieb, darum landete sie nicht auf den Füssen, sondern auf dem Hintern. Sie schrie kurz auf vor Schmerz. Zu ihrem Glück entwich ihr nur eine unverräterische Interjektion. Sie musste vorsichtig sein, damit sie sich nicht selbst ertappte. Der Mann tippte sich mit dem Finger an die Stirn. Sie schüttelte den Kopf und tippte mit dem Finger auf die linke Pobacke, worauf er den Kopf schüttelte, was sie faszinierte, denn sein Bauch schwenkte verzögert und schwerfällig mit, als würde der Bauch dem Kopf nur widerwillig folgen. Sie durchdachte diese Abfolge von Bewegungen nochmals in Zeitlupe, aber rückwärts, beendete das Schauspiel dann vorzeitig, weil sie ein kaltes, nasses Gefühl beschlich. Als sie an sich herunterblickte, nahm sie die Pfütze wahr. Sie erkundete die Umgebungsbedingungen und entdeckte: Regen. Viele Pfützen. Um das trockene Milieu in ihren Schuhen aufrechterhalten zu können, würde sie über die Pfützen springen müssen. Darin war sie nicht gut, noch nie. Ihre Beine waren kurz.

Jetzt sass sie hier in einer Bahnhofshalle. Sie beobachtete einen Mann mit Hut, der einen Joghurt ass. Er füllte sich den Löffel, strich die Unterseite des Löffels sorgfältig am Becherrand ab, strich mit der Oberlippe sachte die oberste Schicht des gefüllten Löffels in seinen Mund, so dass der Joghurt ebenmässig auf dem Löffel lag. Er betrachtete sein symmetrisch perfektes Werk mit schielenden Augen, um sich dann in einem Moment der Unachtsamkeit über die glattgestrichene Masse herzumachen. Dabei hatte er einen Ausdruck auf dem Gesicht wie ein Kind, das einen mit viel Liebe und Geduld errichteten Holzklötzchenturm mit einem Schlag zerstörte. Eine Mischung aus Trauer und Genuss. Diesen Vorgang wiederholte er, bis der Becher nach vierzehn Minuten leer war. Alma spürte mehrere Dinge: ein Stechen in ihrer linken Pobacke, ihre durchnässte Unterhose, die nasskneifende Jeans sowie eine unbestimmte Zuneigung für den Mann mit Hut.

Sie entschied, in einen der wartenden Züge zu steigen. In einen, der sie mit einer unbestimmbaren Wahrscheinlichkeit nicht an ihren Ausgangsort zurückführte. Denn vielleicht würde sie gar nicht zurückgehen, auch später nicht.

sarah king, 2.1.2014

texte 2013

chronologisch aufsteigend

serie enthüllen 2

Ein neues Heft

Manfred setzte sich an den Küchentisch, den einzigen Ort der kleinen Wohnung, der um diese Zeit noch Tageslicht hatte. Er wartete stets so lange wie möglich, bevor er eine Lampe anmachte, selbst im Winter. Die Seiten des Notizheftes schimmerten in der einsetzenden Dämmerung, sie waren schneeweiss, darauf hatte er geachtet, als Kontrast zur schwarzen Tinte. Die Wörter sollten gut lesbar sein, jedes Wort inmitten einer neuen Seite. Trotzdem hatte es anfangs lange gedauert, bis ein Büchlein voll war, erst in letzter Zeit ging es schneller. Fast täglich gab es ein Wort, das ihm nicht mehr einfallen wollte. Es war, als ob es mit ihm Versteck spielte, und es konnte Stunden dauern nach ihm zu suchen. Gefunden hatte er es bisher immer, und wenn erst am nächsten Morgen. Dann trug er es in das Notizheft ein und datierte die Seite. Sonntags schaute er sich die Wörter an, die er die Woche über gesammelt hatte. Er betrachtete jedes Wort in aller Ruhe, bevor er zum nächsten überging. Es erinnerte ihn ans Vokabellernen zu Schulzeiten, dieses Bemühen sich etwas einzuprägen ohne zu wissen wie. Warum verschwanden manche Worte so schnell, während er andere nicht vergessen konnte, obwohl er es am liebsten wollte? Heute las er:

Hortensie.

Alma.

Zifferblatt.

Silo.   

Namen störten ihn nicht besonders, er hatte nie ein besonders gutes Namensgedächtnis gehabt. Alma, die jüngste Schwester seiner Frau, hatte er ausserdem nie kennengelernt. Doch dass ihm der Name der Blume nicht sofort eingefallen war, als er die getrockneten Blüten vorsichtig in die Vase gesteckt hatte, das hatte ihm wehgetan. Er liebte sie beinahe ebenso, wie seine Frau es getan hatte, und er staunte immer neu darüber, wie die Blütenbäusche seine Hände vollständig auszufüllen vermochten. Manfred las die vier Wörter noch einmal, vorwärts und wieder zurück. Er klappte das Heft zu, stand auf und machte die Lampe an. Obwohl das Fenster leicht beschlagen war, kam es ihm nicht besonders warm vor. Ein Spaziergang würde ihm guttun, aber die Kälte und der Verkehrslärm von der grossen Kreuzung entmutigten ihn. Aus der breiten Lade des Küchenschranks zog er ein neues Heft und setzte sich zurück an den Tisch. Er schraubte die Kappe vom Füllfederhalter und schrieb auf das glatte weisse Papier:

Alma hielt er erst an, als sie am Ende des Gartens angekommen war, wo die Hortensien blühten. Sie schaute zum Hof zurück. Das Silo überragte die umliegenden Gebäude, seine Umrisse waren klar vor dem wolkenfreien Himmel. Das Zifferblatt ihrer Uhr spiegelte in der Mittagssonne. Alma hockte sich in den Schatten. Es war genug Zeit, sie musste nicht gleich zurückzugehen. Vielleicht würde sie gar nicht zurückgehen, auch später nicht.

Stephan Schoenholtz, 8. Dezember 2013 


serie enthüllen 1

Eingebung

Haben Sie schon einmal ein Wort gesucht? Nicht eines, das schon gedankenfertig auf der Zunge liegt, sondern eines, das erst noch gedacht werden muss. Ein schönes Wort sollte es sein, aber nicht zu extravagant. Eines, womit man sich identifizieren will, und das alles Unangenehme und Unheimliche ausklammert. Nicht statisch (mittendrin), nicht passiv (annehmen), dafür aktiv (angehen), nicht zu draufgängerisch (bestürmen), lieber etwas zurückhaltend (abwarten), aber dann doch nicht zu zögerlich (herantasten). Wir probieren’s. Zu zweit ein Wort.

„Enthüllen“ vorab. Weil es sich schön ausspricht und gut anfühlt. Enthüllen und enthüllt werden. Der kleine Mensch, der aus einem grossen Menschen herauskommt, sich diesen abstreift wie eine weiche Hülle. Das führt uns von sich entkleidenden Menschen zu intimeren Szenen, die wir gar nicht wissen sollen, weil sie sonst nicht mehr intim sind. Was wir nicht wissen sollen und dennoch enthüllen, klingt nach Enthüllungsgeschichten, die Gier im Nachklang. Wir zaudern. (Ein bisschen.) So rufen wir die mildere Variante auf und verharren beim „Annähern“. Ein geradezu besonnenes Wort, wäre da nicht die äusserlich irritierende Form. Die einen können’s ja rollen, das R, doch andere verschlucken’s, was letztlich Nadel und Faden weckt. Schweigen der Lämmer. Wir reden’s schön: Warum soll für Worte nicht gelten, was sich der Mensch in seiner Not zuspricht? Das Innere. Dann also „annähern“, fast. Bis der Zweifel kommt. Annähern heisst: Nie ganz am Ziel sein. Nur fast, eben. Etwas unvollkommen mutet es an. Zögerlich. Wollen wir nicht lieber „packen“ (zu grob), „anfassen“ (na und?), „berühren“ (zu esoterisch) oder gar „Fallobst“ (wie bitte?)? Inzwischen ist die hinterletzte Hirnzelle aktiviert, Bedeutungen vermischen sich zu Einheitsbrei. Wir faseln wie wirre Zerstreute oder träumende Schläfer. Duden macht’s nicht besser, denken nur noch schlimmer.

So sitzen wir also auf unseren Wörtern. Und warten. Bis wir irgendwann der ersten Eingebung folgen, die sich enthüllte, bevor wir sie suchten.

sarah king, 23. november 2013


Ein erster Satz

Es war einmal ein Mädchen, das stellte die Lebensplanung zahlreicher Teilnehmer des Regionalverkehrs Bern-Solothurn auf den Kopf, indem es ersehnten Verabredungen und entscheidenden Terminen in die Quere kam, nicht absichtlich (es wusste noch gar nicht, was Termine und Verabredungen sind, geschweige denn eine Lebensplanung), sondern einfach, weil es Zeit war, Zeit auf die Welt zu kommen.

Stephan Schoenholtz, 2. November 2013


Der letzte Satz

Und plötzlich fiel ihm ein, was er alles gewollt hätte, da er nun aber schon weit fortgeschritten war in seiner Lebenszeit, beschränkte er sich auf das Mögliche, schlurfte in die Küche, nahm eine Cervelat aus dem Kühlschrank, schnitt sie in zwei Hälften, drückte auf die eine Hälfte eine Portion Mayonnaise, auf die andere Ketchup, legte die beiden Hälften aufeinander, biss in die Wurst, spülte den letzten Bissen mit einem edlen Hopfen runter und spritzte sich eine Extradosis Insulin, weil er es schade fände, wegen des soeben entdeckten Lebenssinns vorzeitig dahinzuscheiden, was er dann aber in derselben Nacht dennoch tat, nicht jedoch wegen der Wurst, sondern weil es Zeit war.

sarah king, 20. oktober 2013


Schneeball

„Ich will“ sagte er und machte eine Pause, um seinen Worten mit einem Blick Nachdruck zu verleihen, „das ist das Leitmotiv unserer Zeit. Das war schon immer das stille Gesetz für menschliches Handeln. Aber heute bestimmt es alles. Als bestünde der Sinn des Lebens darin zu tun, was man will.“ Er schüttelte sachte den Kopf. Seine Schultern waren nach vorne gesunken, die Hände lagen auf der grauen Hose, durch die sich deutlich schmale Oberschenkel abzeichneten. Er ging nur noch langsam und selten, wenige Schritte zwischen Bett, Küche und dem riesenhaften Sessel. Jetzt schaute er den Jungen nicht mehr an, der neben ihm stand. „Was ist denn sonst der Sinn des Lebens?“ fragte der Junge und kratzte sich an der Nase. Der Alte zog die Schultern hoch, wie zwei spitze Stöcke staken sie gegen sein Hemd. „Wenn ich das wüsste.“ Der Junge dachte, dass er nachhause wollte. Er lief zum Fenster, das seine Mutter weit geöffnet hatte, legte seine Hände auf den Sims. Von unten stieg die warme Luft der Heizung auf. Im Schnee auf dem Autodach waren noch die Spuren zu sehen, von den Händen seiner Mutter, als sie dicke Schneebälle formten. Er hatte die Seitenscheiben abgestrichen und einen guten Teil der Kühlerhaube. Sie zielten auf den nächsten Laternenpfahl, dann auf den übernächsten. Dann warfen sie einander die Bälle zu, bis sie klein wurden und zerbröckelten. Seine Hände brannten, als sie ins Auto stiegen. Er drehte sich zum Grossvater um, der unbewegt dasass und auf den Teppich schaute, die Hände auf den Knien. Eine Haarsträhne hatte sich gelöst und hing schräg über seiner Wange. Der Junge stellte sich auf die Zehenspitzen, es reichte gerade, um den Streifen Schnee auf der Fensterbank zu erreichen. Er war von der Sonne verkrustet, aber als er mehrmals darüber strich, lösten sich genug Krümel für eine ungleichmässige Kugel voller Eisstückchen. Zwischen beiden Händen trug er sie zum Grossvater hinüber und stellte sich mitten vor den Sessel. „Nimm mal.“ Der alte Mann legte die Hände aneinander und hielt sie dem Jungen hin. Sie waren lang und weich und zuckten leicht, als er die Kugel hineinlegte, wahrscheinlich hatten sie lange nichts mehr berührt, das so kalt war. Die Kugel sah noch kleiner aus als vorher. Sie war bereits angetaut, bildete immer mehr Wassertropfen, die durch die Hautfalten flossen. Gemeinsam sahen sie zu, wie sich einzelne dunkle Flecken auf der grauen Hose bildeten. Der Grossvater gab dem Jungen das kleine Stück, das noch nicht geschmolzen war. Er lief zum Fenster und warf es hinaus in den Garten, wo es vom Schnee auf der Wiese verschluckt wurde.

Stephan Schoenholtz, 12. Oktober 2013



Endlich

Ich will ein Hemd ohne Schweissflecken,

ich will, dass Du anrufst,

nur mich und sonst niemanden,

ich will, dass Dich jedes meiner Worte in Staunen versetzt,

ich will Deine gelassene Haltung,

ich will als Paar in Abendgarderobe unterwegs sein,

am liebsten mit Deiner Frau,

ich will mit glänzenden Schuhen neben ihr sitzen,

den Einsinkteppich unter den Füssen,

zu Cocktail und bei Kerzenlicht,

ich will mit ihr so vertraut sein,

dass wir auch ohne grosse Reden nebeneinander sitzen können,

ich will Deine gleichmässigen, klaren und doch weichen Züge,

ich will Deine Gedankenlosigkeit,

ich will Deine Kreditkarte,

und wenn ich das alles nicht haben kann,

will ich, dass Du wieder zum kindischen Wuschelkopf wirst,

ganz klein,

oder dass Dich der Blitz trifft,

ganz überraschend,

und sollte er Dich nicht treffen,

dann will ich einfach weinen,

endlich.

sarah king, 2. oktober 2013


Depp

Ich halte meine Hände unters kalte Wasser. Bin durstig, trotz dem ganzen Wein, nein, wegen dem Wein natürlich. Ein Glas nach dem anderen, hab ganz schön zugelangt. Er hat mir auch ständig nachgegossen, als wollte er mich abfüllen. Na ja, er zahlt alles, selber schuld, der Depp. Wär nicht nötig, die teuren Clubs und schicken Restaurants, alle sechs Monate. Ich schippe mir Wasser ins Gesicht, Tropfen spritzen in alle Richtungen, auf die geschliffenen Flächen rund herum, ich schlürfe das Wasser. Im Spiegel sehe ich gar nicht so schlimm aus: das Gesicht leicht gerötet, Wasserflecken auf dem Hemd. Die Schweissflecken sind nicht zu sehen, zum Glück, aber ich kann sie fühlen. Am liebsten würde ich das Hemd ausziehen und mich ins Bett legen. Schlafen, die Müdigkeit wegschlafen und die Anspannung. Er macht sich Sorgen um mich, hat er gesagt, das klingt nett, aber mir kommt die Galle hoch. Davon hab ich nichts gemerkt, hätte ich sagen sollen, oder hast du vielleicht mal angerufen? Und wenn ich dich angerufen habe, konntest du gerade nicht reden, weil irgendjemand da war. Du kannst auch jetzt nicht reden. Sitzt nur da und lässt dich von mir unterhalten. Oder langweilen. Gib wenigstens zu, dass es dich langweilt und du mir gar nicht richtig zuhörst. Hätte ich sagen sollen. Stattdessen lauter belangloses Zeug, Alltagskram, der wirklich niemand interessiert. Vielleicht liegt es daran, dass wir nebeneinander sitzen. Ich hab mich auf die Bank gesetzt, weil sie so bequem aussah, sorgfältig bezogen und gut gepolstert, du hast dich neben mich gesetzt, die Ellenbogen auf die Rückenlehne gelegt und den Blick schweifen lassen, als wäre es dein Laden. Dabei gibt es gar nichts zu sehen. Einige Paare in Abendgarderobe, beim Essen oder Cocktails, wie zufällig am selben Tisch gelandet. Auch sie werfen lange Blicke in den Raum, als könne sie das vor der Langeweile retten. Sie haben sich nichts zu sagen. Ich dachte, wir haben uns was zu sagen. Wir sind Freunde. „Entschuldigung.“ Ein junger Mann in Jackett und glänzenden Schuhen schiebt mich beiseite. Ich gehe zurück auf den Gang, sinke beim Laufen in den Teppich. Überall gedämpftes Licht, Kerzen auf den Tischen. Ich setze mich ihm gegenüber, direkt in sein Blickfeld. „Wo warst du so lange?“ Die Müdigkeit in seinen Augen hat etwas Beängstigendes. „Ich hab mir Gedanken gemacht.“ „Oh nein. Noch mehr?“ Der Ansatz eines Lächelns. Alles in seinem Gesicht ist gleichmässig, klar und doch weich. „Ich will dir nur eine Frage stellen.“ Er nimmt die Arme von der Lehne. „Ich höre.“ „Gut. – Sind wir noch Freunde?“ „Das ist die Frage?“ „Ja.“ „Mein Lieber…“ Er breitet die Hände aus. „Schau dich um. Ich komme mit dir hierher, ich lasse meine Frau allein um hier mit dir zu essen – und du fragst mich, ob wir Freunde sind?“ „Genau das meine ich… das hier… Wärst du mit mir auch in die nächste Eckkneipe gegangen?“ Er schüttelt den Kopf. „Wovon redest du? Wäre dir das lieber, ein schummriger Laden mit klebrigen Tischen und schlechter Bedienung? Aber wir können beim nächsten Mal gerne in die Kneipe gehen. Kommt günstiger für mich.“ „Du verstehst mich nicht. Apropos, heute bezahle ich selbst.“ „Was ist los mit dir?“ „Nein, was ist los mit dir? Mit uns? Haben wir uns noch was zu sagen?“ „Du hast die ganze Zeit geredet, vorher.“ „Und du?“ Er zieht die Schultern hoch. „Ich sag doch was. – Mir ist heut nicht so nach reden.“ Er gibt dem Kellner ein Zeichen. „Getrennte Rechnungen.“ „Ja, ja. Hab dich nicht so.“ Er hat schon das Portemonnaie in der Hand. „Schau mal. Neues Passfoto.“ Hält es mir hin. Derselbe müde Blick, dieselbe Frisur. Ich mochte das alte Foto, das so kindisch war, mit dem verwuschelten Haar und den aufgerissenen Augen, als treffe ihn der Blitz überraschend. Er drückt dem Kellner die Kreditkarte in die Hand, bevor ich protestieren kann. „Jetzt guck nicht so böse.“ Er lächelt, das erste richtige Lächeln heute. Ich reibe mir die Augen, weil mir Tränen reinschiessen. Weiss auch nicht warum. Wahrscheinlich, weil er es schon vergessen hat. Ich müsste ihm die Frage erneut stellen, jetzt gleich, aber ich kann nicht. Vielleicht sollte das Lächeln die Antwort sein. Aber ich glaube nicht. Er hat es einfach wieder vergessen. Nichts ist haften geblieben.

Stephan Schoenholtz, 21. September 2013 


Tubelkuh

War es Geltenstutz und Tubelstutz, oder doch Geltenstoss und Tubelstoss, etwas zum Merken auf jeden Fall, so prägnant, und jetzt ist es doch wieder weg, klammheimlich davon. Notiz: Wanderkarte oder googeln, vielleicht morgen, aber nein, dann ist es schon vorbei, der Tubel und Gelten weit zurück, darum einfach vergessen und beim nächsten Mal, wenn der Fahrer es wiederholt, überrascht sein, aha, Tubelstutz, sehr prägnant, gar nicht wissen wollen, warum der Stutz Tubel heisst, da es doch ganz schlüssig ist, den einen Tubel zu nennen, wenn er neben einem Gelten stehen bleibt und sowieso sagte der Fahrer vielleicht gar nicht Tubel, sondern Double oder sonst was, und der Tubel setzte sich durch, weil es gerade schöner klang, oder weil eine Kuh, die seelenruhig vor der Motorhaube rumlungerte, sich weigerte, die Strassenbreite zu teilen, und alle so taten, als wäre das nett, aber eigentlich wars nicht nett, sondern die Kuh spätestens nach der fünften Kurve schlicht eine Tubelkuh, und wenn es so ist, warum dann nicht einfach immer so; so ganz und gar, so ganz bedächtig hinnehmen, dass nichts haften bleibt, und das Gehörte nicht teilen mit dem schon Gemerkten, lieber immer so, als wäre es das erste Mal – das erste Mal ein Tubel und nur gerade in diesem einen Moment, in dem dieser Tubel vor den eigenen Augen thront wie die Kuh vor dem Poschi.

sarah king, 11. september 2013


und

er hatte keine Lust seinen Spiegel zu teilen, ebenso wenig wie sein Handtuch, seine Kernseife oder seinen Zahnbecher, Dinge, die ausschliesslich ihm zur Verfügung standen, wie alle Objekte in seinen vier Wänden. Teilen war nie seine Sache gewesen.  

Stephan Schoenholtz, 6. September 2013 


oder

dann müsste er plötzlich den spiegel teilen.

sarah king, 25. August 2013


Gesichte

An manchen Abenden, wenn er im Badezimmer stand und sich die Zähne putzte, hatte er Angst, dass etwas auftauchen könnte, das nicht da sein sollte. Nicht da sein konnte, denn er lebte alleine. Alle Schlüssel zu seiner Wohnung hingen an einem hölzernen Brett mit Metallhaken neben der Eingangstür, deren Drehverschluss er stets im Auge hatte, weil sie sonst lautlos aufzugehen pflegte. Kein Lebewesen ausser ihm, einigen winzigen Spinnen und ihren feingliedrigen Opfern konnte mit einer plötzlichen Bewegung im Spiegel sichtbar werden, und dennoch war ihm die gläserne Oberfläche suspekt. Es war ein Bild mit Eigenleben, dessen Kontrolle ausserhalb seiner Möglichkeiten lag. Sein Gesicht mit dem halb geöffneten Mund blickte ihn an, und er fürchtete, es könne sich ein weiteres hinzugesellen, ein zweites stilles Gesicht, das die weisse Fläche der Schranktür zu seiner Linken oder die kahle Steinwand zur Rechten mit Leben füllen würde. 

Stephan Schoenholtz, 18. August 2013  


Die Frau

Was machst du da? Tanja blickte kurz auf. Vor ihr stand die Frau aus dem Restaurant mit hohlem Kreuz und in engen, blauen Shorts. Ihr blondes Haar war in der Mitte des Kopfes exakt gescheitelt und fiel ihr gerade auf die Schultern. Ich baue das Zelt auf. Tanja senkte den Blick und bohrte den Zeltnagel in die trockene Erde. Sie mochte nicht reden. Im Restaurant hatte sie den starren Blick der Frau ein paar Mal kurz erwidert und sich schliesslich an einen anderen Tisch gesetzt.

Darf ich zuschauen? Die Frau kauerte nieder. Da, wo das weiche Fleisch ihrer Ober- und Unterschenkel aufeinanderpresste, war die Haut ganz weiss. Tanja antwortete nicht und fuhr fort mit dem Zeltaufbau. Aus den Augenwinkeln nahm sie die Frau wahr. Sie kauerte noch immer in derselben Position. Obwohl der Blick der Frau nach wie vor starr auf sie gerichtet war, fühlte sie sich nicht beobachtet. Der Blick einer Schlafwandlerin, dachte Tanja. Das Zelt stand. Es war ein kleines, militärfarbenes Zelt. Florian hatte es ihr geschenkt, bevor sie verreiste. So kannst du dich tarnen nachts. Sie lachten über seinen Witz, obwohl beide wussten, dass er es ernst meinte. Bevor sie ging, küsste sie ihn kurz auf den Mund und gab ihm ihren Hausschlüssel. Willst Du ihn nicht noch behalten? Seine Stimme klang fremd. Für alle Fälle? Er blickte sie nicht an.

Tanja ging zum Wagen und holte eine Flasche Weisswein und zwei Becher. Sie setzte sich damit vor das Zelt, entkorkte die Flasche und füllte einen der Becher. Magst Du? Sie reichte der Frau einen Becher. Allmählich gewöhnte sie sich an die sonderbare Gesellschaft. Die Frau stürzte den Wein in einem Zug runter und gab Tanja den Becher zurück.

Du scheinst Durst zu haben, lachte Tanja. Die Frau verzog keine Miene und schüttelte den Kopf. Du magst Wein? Wieder ein Kopfschütteln. Und warum trinkst Du ihn dann? Die Frau zuckte nur die Schultern. Tanja wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, bevor sie merkte, dass sie nur noch die Umrisse der Bäume im Park sehen konnte. Auch die Frau sah sie nur noch schemenhaft. Sie fühlte sich auf einmal sehr müde. Ich gehe schlafen, sagte sie. Als hätte die Frau darauf gewartet, richtete sie sich hastig auf. Ja, murmelte sie, drehte sie sich um und ging. Tanja legte sich vor dem Zelt auf den Rücken und blickte in die Baumkrone. Die Äste sahen aus wie schwarze Mambas. Mit den Augen suchte sie die anderen Baumkronen ab. Überall schwarze Mambas. Irgendwo aus der Dunkelheit erklang ein Fahrradscheppern. Sie lauschte angestrengt. Das Scheppern entfernte sich von ihr und wurde leiser. Sie durfte sich nicht bewegen.

Sarah King, 1. August 2013



Durch die Waldstadt

Bei den wenigen Besuchen, seitdem ich die Stadt verlassen habe, nehme ich meist die U-Bahn. Aber es ist Sommer, ein Freund hat mir das Rad seiner Frau geliehen, und ich fahre wieder auf den Spuren von Taxis und Bussen. Man müsste mehrere Strassen der Kleinstadt, in der ich jetzt lebe, nebeneinanderlegen, um so eine Allee zu bekommen. Ich habe ungeheuer viel Platz, Platz um den Wurzeln auszuweichen, die unter die Radwege gekrochen sind und dort Beulen gebildet haben. Buckel.

„Warum habt ihr euch eigentlich getrennt? Hattest du mir das einmal erzählt?“ Der Freund kippt seinen Stuhl auf die Hinterbeine und schaukelt sacht, die Knie an die Tischkannte gedrückt. Ich schaue meiner Hand zu, die die Bierflasche nimmt und wieder loslässt. Bestimmt habe ich mit ihm schon darüber gesprochen, er ist mein ältester Freund. „Ihr hattet ja keine Probleme, oder? Keine Streitpunkte.“ „Es ist nicht so einfach…“ sage ich und frage mich, ob es nicht ganz einfach war, „Ich wusste nicht mehr richtig, was ich fühlte. Oder ob das, was ich für sie fühlte, das Richtige war.“ Er lässt den Stuhl zurückkippen. „Ich verstehe nicht, was du meinst.“

Das Licht fokussiert mich. Die Laternen werfen Lichtflecken auf den Asphalt, ich folge ihnen wie Papierschnitzeln auf einem Waldweg. Dahinter Reihen von Häusern, ruhige Mauern, um die Nachtgestalten streichen. Wir sind seltsam verbunden, hier draussen und wach. Am Mittag habe ich im Park eine Frau gesehen, die ihr Zelt in Ordnung brachte. Sie hatte es im Winkel eines Unterstands aufgeschlagen, ein wenig oberhalb einer Teichanlage. Ein schmales niedriges Zelt in Militärfarben. Ob sie jetzt schläft?

Die Kette springt lauthals vom Blatt, ein Ruck und Sperre in den Füssen. Ich steige ab. Vom Park her kommt kühlere Luft, sie mischt sich mit der Wärme der Steinplatten. Die Kette steckt fest, meine Finger werden ölig. Wir haben sie extra frisch geölt. Niemand lässt sich stören, ein Radfahrer gleitet vorbei, ohne auch nur den Kopf zu wenden. Selbst drei lustige Nachtwanderer bleiben ins Gespräch vertieft. Ich habe Angst sie nicht lösen zu können, den Rest des Weges laufen zu müssen. Dann kann ich sie hochziehen und wieder über die Zahnräder spannen.

Ich bilde mir ein, dass mir das Fahren leichter fällt als am Tag. An der Ampel halte ich, ein Entgegenkommen meinerseits, als sei dies ein Spiel. Die Autos am Strassenrand knacken leise, bedeckt von Staub. Die Luft hat genau die richtige Temperatur. Ich könnte ewig so fahren und nirgendwo ankommen. 

Stephan Schoenholtz, 24. Juli 2013


Runden drehen

Zum vierten Mal steht diese Tanne am Wegrand – mit eingeknickter Spitze, als wäre sie kurz eingenickt. Sie wird wohl nicht auf einem Schleichweg davonhuschen, um sich ein paar Kilometer weiter erneut schlafend zu stellen. So dreist sind Bäume nicht. Auch nicht alte Schottenbäume. Ich drehe also Runden. Zehn Uhr nachts auf Nebenwegen durch Wälder zu navigieren, ist nicht Tomtoms Stärke. In immer kürzeren Abständen signalisiert er einen Richtungswechsel. Er wurde schon nervös, als ich spontan eine Abkürzung querfeldein einschlug. Ich schalte ihn aus. Es ist so still im Wagen, dass die Gedanken laut werden. Die Offstimme einer Waldfahrt.

Nur monotones Rauschen im Radio. Das ist nicht weniger spannend als nochmals die Geschichte von Bill Walker zu hören, der in den letzten 28 Jahren mindestens vier Frauen bedroht und tätlich angegriffen hat. Unter anderem mit Bratpfannen. Er ist Mitglied einer linksliberalen Partei, die sich für soziale Gerechtigkeit stark macht. Neben Bill füllt Andy Murray das Programm. Sportpsychologen, Journalisten, Politiker – alle äussern sich dazu, ob Tennis als Mittelklassensport fortan dem Nationalsport Golf den Ruhm stehlen wird. Ein eingefleischter Golfer zeigt sich besorgt darüber, dass nun die schottischen Kiddys von heute die Racket-Stars von morgen werden wollen. Ab und zu kriegt die Bedroom-Taxe ein paar Sekunden Sendeplatz.

Sie fuchtelt nächstens mit dem Rollator durch die Luft. „Abzockerei!“, entrüstet sich die Grosstante. „Immer bei denen, die nichts haben! Oder?“ Und wenn dir morgen ein Elefant auf den Fuss tritt, quittierst du übermorgen den Fehltritt eines Mammuts nur noch mit einem freundlichen Lächeln. Der Grosstante geht es gut. Nur ein Zimmer, keine Taxen. Nach einer Weile verstummt sie wie die grünschwarz gestreiften Pyjama-Fische in den Aquarien des einzigen Cafés im Ort. Sie mustert mich. Dazu kreisen ihre Augen lange hinter den dicken Brillenscheiben. Sie finden keinen Halt. „Wie siehst du aus?“, fragt sie, bevor ich gehe.

Weiss mit Sommersprossen. So steht der Barkeeper auf der anderen Seite des Waldes hinter dem Tresen. Er sagt „Die Sonne hasst mich“ und „Dich hat sie nicht lieber“. Er fragt nicht, woher ich komme und wohin ich gehe.

Einmal rechts, einmal links. Gemittelt sollte das geradeaus ergeben. Kein eingeknickter Zipfel mehr in Sicht. Ein leises Kribbeln im kleinen Finger. Nicht wegen irgendwelchen Bills, die unerwartet mit einer Bratpfanne hinter einem Baum hervorspringen könnten – Menschen wie er fürchten sich nachts im Wald. Es ist das  Benzin-Signal. Es blinkt.

sarah king, 10. juli 2013 


Dreistes Alter

Weil das Fenster geklappt war, konnte ich ihn hören, wie er seine Runden drehte. Mit hochgezogenen Gängen klang mein Auto wie ein Rennwagen. Ich hatte es im vergangenen Sommer gekauft und pfleglicher behandelt als alle anderen Dinge, die ich besass. Jetzt raste mein Vater darin durch die Strassen um die Klinik, unter jeglicher Missachtung der Geschwindigkeitsbegrenzung. Ich erwartete jeden Moment den trockenen Knall, klirrendes Glas und berstendes Plastik, aber die nervöse Melodie des Motors wollte kein Ende nehmen. Jemand musste ihn aufhalten. Ich stemmte mich mühevoll aus dem Sessel und ging die wenigen Schritte zum Bett hinüber. Ich liess mich zur Seite sinken, den Kopf auf das grosse Kissen, die Beine angewinkelt, und schloss die Augen. Ich würde ausschlafen, zum ersten Mal seit Tagen, und wenn ich erwachte, wäre die Ordnung wieder hergestellt. Mein Vater würde liegen, wo ich jetzt liege, ich würde ihn zudecken, meine Autoschlüssel nehmen und durch die langen Korridore gehen, hinaus auf den Parkplatz. Ich würde in mein neues Auto steigen und darin nachhause fahren, beinahe geräuschlos.  

Stephan Schoenholtz, 29. Juni 2013


Titellos

„Ja, ja.“

Erschrocken drehe ich mich um. Da sitzt er am Bettrand, der Alte, und starrt mich an, als hätte er einen Dieb im Visier. Keuchend steht er auf, flucht über das Nachthemd, das ihm wie ein überdimensionaler Esslatz über den Bauch hängt und seinen Hintern entblösst. „Gib mir mal ein anständiges Hemd aus dem Schrank. In jeder Badeanstalt würden sie für Menschen in diesem Aufzug eine FKK-Zone einrichten."

Ich versuche mich zu bewegen, aber bin erstarrt. Ohne meinen Blick vom Alten zu wenden, greife ich hinter mich, taste blind nach dem Lehnstuhl und lasse mich reinplumpsen. Der Alte zuckt die Schultern, schlurft zum Wandschrank und wühlt eine Weile in seinen Kleidern. „Ah, ja, dieses.“ Umständlich schlüpft er in ein dunkelblaues Hemd und knöpft es von unten nach oben zu, Knopf für Knopf. Er spuckt sich in die Hände, verreibt die Spucke sorgfältig über die Handflächen und streicht sich danach mit den Fingern durch das Haar. Er schlurft weiter zum Tisch vor dem Fenster und lässt sich ächzend auf einen Stuhl nieder. „Was führt Dich zu mir?“

Es scheint, dass die Blockade inzwischen mein Denken erreicht hat. Ich bleibe stumm und spüre meinen fassungslosen Blick. Der Alte erhebt sich wieder, schlurft erneut zum Schrank und wühlt in seinen Kleidern. „Ah ja, da.“ Er zieht ein Päckchen aus einer Jackentasche, steckt sich mit fahrigen Bewegungen eine Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug. „Das Zeug bringt mich eines Tages noch um“, hustet er, während er mir das Päckchen entgegenstreckt. „Willst Du?“ Vermutlich schüttle ich den Kopf, vielleicht denk ich es auch nur. Der Alte schlurft zu mir und beugt sich über mein Gesicht, die Zigarette hängt ihm lose im Mundwinkel. „Du bist so blass, Sohn, und starrst mich an, als wäre ich ein Geist.“  Er greift in meine Brusttasche, klaubt den Autoschlüssel raus und tätschelt meine Wange. „Ich komm sonst ein anderes Mal wieder, wenn es Dir besser geht.“

Sarah King, 17.6.2013


Hitzestau

Er schwitzt auch, ich rieche es, aber seine Haut ist trocken, als würde das Wasser sofort verdampfen, aufgesogen von der Luft, die das kleine Zimmer ausfüllt und nicht aus dem Fenster entweichen will. Ich bin froh über die Schweisstropfen, die sich überall auf meiner Haut bilden. Sie sammeln sich auf meiner Stirn, ich folge ihren Bewegungen über die Schläfen in die Augenwinkel, sie kitzeln mich auf dem Kopf, im Nacken, in den Hüften. Sie wehren sich gegen die Erstarrung im Zimmer, sagen mir, dass ich mich bewegen kann, wenn ich möchte, dass meine Glieder weich sind und flexibel, nicht steif werden seine. Ich stelle mir vor, wie er eine Felswand hochklettert, obwohl ich das nie gesehen habe. Mama hat mir davon erzählt. Von ihren gemeinsamen Wanderungen in den Bergen. Ich erinnere mich nur, dass er mich auf seine Schultern hob, mit beiden Händen, und dass ich mich in seinen Haaren festhielt. An seine Bewegungen beim Gehen. Bestimmt hat er geschwitzt unter meinem kleinen Gewicht, das T-Shirt klebte ihm auf der Haut. Seine Haare waren pechschwarz und lockig. Jetzt sind sie weiss. Ich nehme seine Hand und schiebe den Mittelfinger auf die Pulsader. Da fliesst das Blut, ein schäumender roter Gebirgsbach. Auf Spaziergängen haben Mama und er mich zwischen sich genommen und durch die Luft geschwenkt, vor und zurück, vielleicht. Erinnern kann ich mich nicht daran. Ich stehe auf und gehe durch das Zimmer. Wenn es nur regnen würde.

Stephan Schoenholtz, 9. Juni 2013 



Hummel

Nur seine Lippen bewegen sich. Die Ohren liegen flach an die Schläfen gedrückt, die Stirn ist faltenfrei, das Kinn verharrt an Ort und Stelle, die Hände liegen starr im Schoss, der Rücken ist gestreckt, er schaut geradeaus. Wie träge Hummel strömen Laute aus seinem Mund, den Inhalt höre ich nicht. Von den Wangenknochen aus bahnen sich vereinzelt blaue Äderchen ihren Weg über die Nasenflügel und verschwinden in der Dunkelheit seiner eigentümlich grossen Nasenlöcher, aus denen ein paar weisse Haare spienzeln. Ab und zu schielt er zu mir hinüber, ohne seinen Kopf zu wenden, nur ganz kurz – so kurz, wie das Hervorschnellen der Zunge eines Froschs, der seine Beute fängt. Brust und Bauch sind bewegungslos wie bei einer Puppe. Nach einer Weile drücke ich meinen Zeigefinger in seinen Oberarm, um zu sehen, ob er echt ist. Das Fleisch gibt nach, es bildet sich eine weisse Delle, die sich wieder mit Blut füllt, sobald ich den Finger wegnehme. Nur langsam, also nicht ganz elastisch. Das wiederhole ich ein paar Mal, er merkt es nicht. Versuchsweise lege ich meinen Kopf in seinen Schoss wie auf ein Kissen und schiebe meine Arme unter seine Beine. Nun ziehen seine Worte über mich hinweg, immer noch vom selben monotonen Hummelton getragen. Etwas benommen richte ich mich auf und drehe die Fensterscheibe runter. Es ist drückend heiss, das T-Shirt klebt an meinem Körper. Ich hätte auf Janine hören sollen. „Zieh ein Kleid an“, lachte sie, es ist Sommer. Ich schlüpfte in ein Kleid und fühlte mich leicht. Eine Weile lag ich damit auf dem kühlen Steinboden und betrachtete die Fotos an Janines Wohnzimmerwand. Auf dem einen war meine Mutter an einem See. Es war dunkel. Mutter hatte nackte Füsse, geschlossene Augen und die Arme waren seitlich ausgestreckt. „Sie drehte sich einmal rund herum an jenem Tag.“ Ich schaute zu Janine. „Und?“ Sie verzog ihren Mund nach rechts, wie immer, wenn sie nachdachte. „Ein Jahr später warst Du da.“ Eine Wolke schob sich langsam vor die Sonne und legte Janines Gesicht in Schatten. „Geh jetzt“, sagte sie. „sonst kommst Du zu spät.“ Bevor ich das Haus verliess, wechselte ich noch rasch das Kleid gegen Jeans und Pulli. Dann drückte ich Janine fest an mich, dann ging ich, dann kam die Sonne wieder, dann die Hitze, dann der Schweiss und jetzt sitze ich hier. Wegen einer Drehung.

Sarah King, 31. Mai 2013 


Volle Drehung

Die Betäubung auf den Ohren lässt nach. Meistens trage ich Stöpsel, aber heute wollte ich die Schallwellen gegen das Trommelfell spüren. Als wir aus dem Club kamen, war es wie nach dem Schwimmen. Ich hab ein anderes Set gespielt als geplant, wahrscheinlich hab ich die Leute vergrault. Es war ein verrückter Tag, was soll‘s? Und ein Set ist immer noch der Abschluss meines Tages. „Ein bisschen zerfahren war’s“, sagt Janine. „Irgendwann konnte man Dir nicht mehr folgen.“ „Du auch nicht?“ „Nicht zum Tanzen“, sagt sie, „zu viele schnelle Wechsel. Und manchmal bist Du hängen geblieben und man kriegte ein Gefühl von: hey, geht’s da mal weiter?“ „Genauso war es auch. Dann ist ja alles rübergekommen.“ „Ja, schon… Konnten wir halt nicht so mitgehen. Ausser ein paar Freaks.“ „Bin ich ein Freak?“ Janine lacht und drückt mich leicht zur Seite. „Was war denn los?“ Ich will gar nicht reden. Es genügt mir, hier mit ihr zu sitzen, am Wasser, das schwarz ist wie der Nachthimmel und nach Algen riecht. Weit weg von den Laternen. Ich höre das Rauschen der Stadt um den Park, es beruhigt mich. Mein Kopf rutscht über Janines Schulter bis in ihren Schoss, ich drehe mich zur Seite, schiebe die Arme unter ihre Beine. Bei ihr kann man sich verkriechen, sie ist gross und schlank, war sie schon damals, mit langen Armen und Beinen, da findet man immer Platz. Die Grashalme pressen kühl an meine Haut. Janine schaukelt vor und zurück und summt leise vor sich hin. Ich muss lachen, und sie auch. Sie kitzelt mich am Ohr und unterm Kinn. Da wäre ich also, ein Baby im Mutterschoss. Wenn ich selbst noch ein Baby bin, wie kann ich da eins bekommen? Vielleicht wäre das die Antwort gewesen. Stattdessen habe ich gar nichts gesagt. War auch besser so. Ich bin kein Baby, ich bin dreissig Jahre alt, und in diesem Alter muss man auf einiges gefasst sein. „Passiert hier was?“ Janine klopft mir leicht an die Stirn. „Ne Menge.“ „Und?“ „Ich frage mich, ob ich ein Kind möchte.“ Janine sitzt ganz still. „Im wievielten Monat bist Du?“ „Ich bin nicht schwanger. Dann wäre es ja ein bisschen spät.“ Sie lehnt sich zurück und schaut auf ihre Zehen. Ich setze mich auf. „Das war nicht auf Dich bezogen. Ausserdem hattet ihr es ja geplant.“ „Mehr oder weniger. Von wem sprechen wir eigentlich?“ Berechtigte Frage. „Holger. Er hat mir gesagt, dass er gerne ein Kind mit mir bekommen würde. In der Mittagspause.“ Selbst ich muss lachen. „Der perfekte Moment.“ „Ja. Aber ich mochte, wie er es gesagt hat. Hat auch noch nie jemand zu mir gesagt.“ „Enrico nie?“ Ich schüttele den Kopf. Der zweite im Bunde. Wir sind alle miteinander verbunden, obwohl wir uns nie zusammen sehen. Ich bin mit ihnen verbunden, hänge an ihnen mit unsichtbaren Fäden, stark wie Seile. Die ich nicht kappen will. Holger, der Dinge so klar sagen kann mit seiner brüchigen Stimme. Gedanken haben wir ja alle, aber er kann sagen, was er denkt. Enrico, mit dem es still wird und die Zeit langsamer vergeht. Mit beiden bin ich voll in der Welt. Mit niemand kann ich sie so gut vergessen. „Da will jemand, dass Du Dich entscheidest.“ Ich schaue Janine an. Bin überrascht, dass sie nicht ernst dreinblickt, zwei mahnende Augen auf mich richtet. Sondern, wie ist das Wort? Verschmitzt. „Was mir immer hilft: ich stelle mich mitten ins Zimmer und drehe mich einmal. Einmal rund herum.“ „Einfach eine Drehung?“ „Genau.“ „Und dann?“ „Ich weiss nicht. Das entspannt. 360 verschiedene Blickwinkel.“ Ich rümpfe die Nase. Klingt nach Lebenshilfe. Trotzdem stehe ich auf. Ich ziehe meine Schuhe aus, stelle beide Füsse ins Gras. Und beginne mich zu drehen. Ganz langsam, Schritt für Schritt, einmal um die eigene Achse.

Stephan Schoenholtz, 19. Mai 2013


existential view

45°      ich bin eingestiegen.

90°      warum bin ich eingestiegen?

135°    aussteigen geht nicht mehr.

180°    na dann. (ps: hier pfeifen die pirole)

225°    bald kann ich aussteigen.

270°    bald muss ich aussteigen.

315°    warum muss ich aussteigen?

360°    es steigt mich aus. 

sarah king, 5. Mai 2013 


Beinahe

Er hatte diesen Film unbedingt machen wollen, und nun konnte er es nicht. Es wäre seine Rolle gewesen, das glaubte er immer noch. Er knöpfte sich den Mantel zu. Bevor er das Restaurant verliess, wandte er den Kopf. Sie winkte ihm zu, lächelnd. Beinahe hätte er sie überzeugt. Er trat hinaus in den Regen. Wäre es nicht besser gewesen vollständig zu scheitern als sein Ziel so knapp zu verfehlen? Ein Nein war schliesslich ein Nein. Die Schachtel war fast leer, trotzdem steckte er sich eine Zigarette an, die Flamme schoss hoch und erlosch. Ein Traum, den er aufgeben musste. Er machte Platz für ein Paar, dicht an dicht schoben sie sich ins Innere, ohne einander loszulassen. Er fragte sich, wohin er jetzt gehen sollte. Durch die Bäume des Parks blitzten die Lichter des Riesenrads, und zu seiner Überraschung merkte er, wie er langsam darauf zuging.

Stephan Schoenholtz, 29. 04. 2013 


Eine Szene machen

„Nein, nein, nein, stopp!“ Wie ein eingesperrter Tiger hetzte Igor neben dem Tisch auf und ab, Maria drückte die Zigarette aus, der Kellner kam gerannt, entfernte die Kippe mit einer Pinzette aus dem Aschenbecher und verschwand unauffällig wieder aus dem Bild, Dora puderte sich die Nase und versuchte sich das Gefühl des sich Auflösens in Erinnerung zu rufen, bevor sie die Szene zum elften Mal wiederholen würden. „Was ist?“ Kaspar war genervt. „Du sollst husten“, presste Igor betont ruhig hervor, „und nicht an einer Lungenentzündung dahinscheiden.“ Dora kicherte, Maria verschluckte sich an ihrem Wasser und hustete. Gelangweilt wickelte sich der Kameramann ein Kabel um den Finger. „Aber ...“, weiter kam Kaspar nicht, Igor schnitt ihm mit einer Geste die Worte ab. „Ein zufälliger Reiz. Ein Huster. Mehr nicht.“ Er trat einen Schritt zurück und gab dem Kameramann ein Zeichen.

Sarah King, 19.4.2013


Aggregatzustände

„Dann gehöre ich jetzt zu Deinen Verflossenen?“ Er zuckte die Schultern ohne mich anzusehen. „Wenn Du es so nennen willst.“ „Letzte Woche hast Du noch gesagt, dass Du mich liebst.“ „Ich hab’s gesagt, ja.“ „Und?“ „Vielleicht hab‘ ich es nicht mehr gefühlt.“ „Vielleicht? Sowas weiss man doch!“ „Das ist es ja. Ich wusste es nicht mehr, ich war unsicher.“ „Und jetzt bist du sicher?“ Er nickte. Ich stand auf. Der Stuhl schabte über den Steinboden, mehrere Leute drehten sich um und sahen mich an. Ich machte ein paar Schritte auf und ab, gerade neben unserem Tisch. Er blieb sitzen, mit hängenden Schultern, bewegungslos. Ich setzte mich wieder. „Das ist nicht möglich.“ Er begann zu husten. Seine Erkältung war schlimmer geworden in den vergangenen Tagen. Jetzt schüttelte es ihn, als wolle es gar nicht mehr aufhören. „Was ist passiert? Du kannst mich nicht – einfach aushusten!“ Vielleicht wollte ich ihn zum Lachen bringen. Doch er blieb ganz ernst. „Nein. Natürlich nicht. Du hast Dich eher langsam verflüchtigt. Glaube ich.“ „Und was soll ich jetzt machen? Du bist in mir drin, ganz fest und schwer! Wie soll ich Dich da rauskriegen? Was bleibt dann noch von mir übrig?“ Schon während ich das sagte, hatte ich das Gefühl mich aufzulösen, wie der Zigarettenrauch der Frau am Nebentisch.

Stephan Schoenholtz, 11. April 2013


Der Verflossene

Und solltest du es schlucken und wieder aushusten, so wird es, gerettet aus der Alveolen-Höhle, dich fortan als seinen Freund betrachten, auch wenn es dir bald nur noch als vager Schluck in Erinnerung bleibt. Ein Verflossener. Taucher.

Sarah King, 3. April 2013


Bahnentauchen

Jetzt musst du lange, denkt er, lange, lange die Luft anhalten. Die Bahn kommt ihm unendlich vor, weiter als der Schulweg, als jede Marathonstrecke. Laufen liegt ihm, er macht es gern, vielleicht ist er deswegen gut darin. Nicht Schwimmen. Er mag das Wasser nicht, auch nicht an heissen Tagen. Es macht ihm Angst. Zum Glück hat es noch niemand gemerkt, glaubt er jedenfalls. Er hat nie etwas gesagt, ist immer im Becken, solange die Anderen es sind. Er fragt sich, ob es welche gibt, denen es ähnlich geht. Wie viele von ihnen so tun als ob. Er hält sich am Rand fest. Gleich wird ihn das Wasser von allen Seiten umgeben, wird gegen ihn drücken, als suche es einen Weg nach Innen, wolle in ihn hineinfliessen und ihn füllen, bis alle Luft aus ihm entwichen ist und er ganz schwer wird und sinkt wie ein vollgesogener Schwamm. Das Wasser ist euer Freund, sagt der Lehrer, es will euch tragen. Mit dem Wasser kann man nicht Freund sein, denkt er. Das Wasser ist gleichgültig, ihm ist  egal, ob ich atmen kann. Sein Herz klopft schnell und hart, der Lehrer gibt das Zeichen. Jetzt, denkt er, holt tief Luft und taucht unter.

Stephan Schoenholtz, 27.03.2013  



K

Das denkt der Mann – abgebrüht wie ein zu lange gekochtes Ei – während er ein Stück Schokolade abbricht und es sorgfältig in ein Brötchen einbettet, bis die Schokolade nicht mehr sichtbar ist, in Vorfreude darauf, sie unerwartet wiederzufinden bei irgend einem Bissen. Als wäre die Glucke zu lange auf dem Ei gesessen, so abgebrüht, denkt der Mann, und beobachtet aus den Augenwinkeln die Frau auf dem Tretroller, die sich von ihrem Hund durch den Wald ziehen lässt. „Er ist so langsam heute!“, ruft sie, „Alles muss ich selber machen.“ Dem Gespann folgt ein grinsender Jogger in T-Shirt und Boxhandschuhen, der im Vorbeigang die Luft anhält. Abgebrüht vielleicht, weil er sich nicht wundert über Boxhandschuhe und tretrollerziehende Huskys im Wald. Er beisst in sein Brötchen. Noch nichts. Vielleicht waren sie ein Paar, die Tretrollerin und der Boxer. Die Sonne findet ihn. Mitten durch die Nadelbäume blickt sie hindurch und wärmt seinen Bauch und die Beine. Beim nächsten Bissen kommt der Boxer aus der Gegenrichtung angerannt. Kein Paar also. Wieder hält er die Luft an. Jetzt musst Du lange, denkt der Mann, lange, lange die Luft anhalten, denn Dein Weg liegt in meinem Blickfeld. Die Neugier ist weg, sich bis zur Schokolade durchzubeissen, stellt der Mann fest. So legt er das Brötchen neben sich auf die Treppenstufe des gelben Gefährts, das er spontan Bauwagen nennen würde, aber er weiss, dass es auch anders heissen könnte. Etwas mit K. Mehr fällt ihm nicht ein. So abgebrüht, denkt er, dass Buchstaben stehen, wo Wörter wären. Das gelbe K. Für einen Moment schliesst er die Augen, hört aus der Ferne das Keuchen des wieder atmenden Boxers. Nach einer Weile erhebt sich der Mann, schüttelt den Staub von seinen Hosen und dreht sich um zum gelben K. Seltsam, denkt er, es hätte die ganze Zeit ein Haus sein können. 

Sarah King, 11.03.2013



Irrtum II 

Manchmal kam er sich abgebrüht vor, verhärtet wie ein Ei, das zu lange in kochendem Wasser gelegen hatte.

Stephan Schoenholtz, 5.03.2013


irrtum

herzen auf händen balancieren wie rohe eier, die zerbrechen, wenn man sie drückt.

sarah king, 16.02.2013 


Sinngedicht

Ich höre das Gras
höre es wachsen
durch den Teppich im Wohnzimmer
wächst es, kitzelt uns
unter den Füssen.

Ich höre die Flöhe
höre sie husten
in deinen Haaren husten sie
leise, bevor sie leichtfüssig
in meine springen.

Dein Herz schlägt sachte
unhörbar
in meiner Hand pocht es
unter deiner Haut
zwischen unseren Fingern.

Die Spatzen pfeifen
pfeifen es von den Dächern
wie wir hier liegen
Hand in Hand, Haar in Haar
auf dem Wohnzimmerteppich.

Stephan Schoenholtz, 06.02.2013   


Scheinfüsschen

Ich sitze in einem senfgelben Sessel und lese ein Buch über Amöben. Zwischendurch lasse ich das Buch auf meine Knie sinken und meinen Blick durch den Raum schweifen. Drei Wände sind gefüllt mit weiteren Bücher dieser Art. Neben dem Fenster hängt eine grosse Fotografie von einer vielfach vergrösserten Amöbe. Kleine Ausbuchtungen an ihrer Körpergrenze identifiziere ich als Scheinfüsschen. Ich lese weiter. Bücher über Amöben - das fällt mir nach einer Weile auf - sind sehr still. Ohrenbetäubend still. Selbst beim Umblättern fehlt das leise Rascheln. Geräuschlos lege ich das Buch zur Seite, trete vor das Haus und schliesse die Augen. Ich höre das Gras wachsen.

Sarah King, 28.1.2013


Mängelexemplar

Er zog den Stuhl zurück, setzte sich und legte das Gerät vor sich auf den Küchentisch. Wie einen Patienten betrachtete er es eingehend, bevor er es in beide Hände nahm und das Fach mit den Batterien öffnete: die einzig mögliche Operation. Der Tausch ging reibungslos vonstatten. Er verschloss das Fach, erhob sich und trat wieder an den Herd. Obwohl er es zu vermeiden versuchte, musste er an den Laserdrucker denken, den er in der vergangenen Woche auf die Post getragen hatte, um ihn wegen technischer Mängel zurück an die Firma zu schicken. Unmöglich, ihn in Gang zu setzen, der telefonischen Beratung zum Trotz. Für den Milchschäumer in seinen Händen würde er niemanden anrufen, er würde ihn auch nicht in den Laden zurückbringen, in dem er ihn so günstig erstanden hatte, das lohnte sich nicht. Konnte man auf Kriegsfuss stehen mit der Technik? War es möglich, dass Geräte, die in anderen Haushalten zu Höchstform aufliefen, in seiner Wohnung einfach nicht funktionieren wollten, sich ihm sozusagen persönlich verweigerten?  Mit einem tiefen Atemzug schob er den Schalter vor. Er presste den Schalter so hart, dass ihn der Daumen schmerzte. Die Stille war ohrenbetäubend. Am Vormittag noch hatte er sich vorgestellt, wie die Milch langsam im Topf steigen würde, wirbelnd und schäumend, Gischt speiend. Stattdessen bildete sich nun eine dünne Haut, und er ärgerte sich schwarz.

Stephan Schoenholtz, 20.01.2013   



halbe-halbe

weder kann sich die eine
noch die andere hälfte
beklagen
über ein zuviel oder zuwenig

ohne drängeln drücken verhandeln
dümpeln sie gleichmässig vor sich hin
undefinierbar
weder fisch noch vogel


Warum nicht Kaffee, der sich schwärzt vor Ärger
beim Anblick nur eines Tropfens zuviel heisser Milch
und Milch, die im Gegenzug Gischt speit?


Sarah King, 12. Januar 2013


Nachmittagsskizze

Und was, wenn sie nicht mehr aufwachte? Thomas steht auf. Er stellt den Stuhl zurück an die Wand und verlässt das Zimmer, in dem seine Mutter schläft. Langsam geht er die Treppe hinunter, durch den fensterlosen Flur. In der Küche ist es hell. Sein Vater dreht ihm den Kopf zu, als er hereinkommt. Er stellt zwei Teller ins Abtropfgestell, ein Trockentuch über der Schulter. „Na?“ Thomas nickt. Sein Vater wäscht einen Kochtopf aus. Kleine genaue Bewegungen macht er, fährt mit dem Schwamm über das Metall, lässt Wasser darüber laufen. Er trägt den grauen Wollpullover, den die Mutter gekauft hat, er macht alles darin, im und um das Haus, im Garten, im Keller. Manchmal bleibt etwas hängen, ein trockenes Blatt, Spinnweben, bröckelnder Putz. Jetzt sind die Ärmel vorne nass. Sein Vater wischt über die Tischdecke. „Trinkst du auch einen Kaffee?“ Er richtet sich auf. „Dann mache ich mehr Milch heiss. Oder lieber später?“ „Nein, jetzt ist gut. Ich will nicht zu spät fahren.“ Thomas setzt sich an den Tisch mit den feuchten Spuren. Sein Vater bemisst die Milch in dem kleinen grauen Topf, den er stets braucht. Er nimmt zwei Tassen aus dem Hängeschrank und stellt sie neben die Herdplatten. Das Trockentuch hängt er über die Ofenstange. Noch einmal sieht er sich prüfend in der Küche um. Dann verschränkt er die Arme. Die Kaffemaschine rasselt. Thomas lehnt sich im Stuhl zurück. Über dem Topf bildet sich feiner Dampf. Thomas schaut seinen Vater an. Er schaut zurück, den Kopf leicht zur Seite geneigt, zieht die Lippen ein wenig zusammen. Plötzlich dreht er sich zum Herd und hebt den Topf von der heissen Platte, im letzten Moment. Er giesst die Milch in die Tassen. „Halbe, halbe?“ „Ja. Danke.“       

Stephan Schoenholtz, 06.01.2013    

texte 2012 

chronologisch aufsteigend

aktuelles hin und her

Schlummerfunktion

Und wie der Wecker klingelt, werden die Tiere auf der Fotografie lebendig, nehmen eine dreidimensionale Gestalt an, ganz klar, wie der Schleimklumpen, den die Giraffe durch die eineinhalb Meter lange Luftröhre nach oben pumpt und über die Gehegegrenze direkt vor meine Füsse spuckt. Das Gehege erscheint mir weder als Gefängnis noch als Zoo, sondern als Stück Land, das nicht mir gehört, das ich aber freundlicherweise betrachten darf, und dessen zaunloser Rand die Grenzen meines Weges optisch hervorhebt. Ich blicke also auf diesen Weg, trete über den Giraffen-Schleimklumpen hinweg, der auch ohne Hals leise weiter rasselt. Das stört mich nicht, denn mir fällt anderes auf, das ich zur Kenntnis nehmen will: Erstens ist es inzwischen warm statt lauwarm. Zweitens wiegen sich die Bäume nicht mehr sachte im Wind, sondern biegen sich mit ihm klar nach Osten. Drittens gehe ich in dieselbe Richtung. Bevor ich weitergehe, drehe ich mich nochmals um. Die Giraffe schlummert.

Sarah King, 26.12.2012


Kurze Erholung

Normalerweise gehe ich nicht gerne in den Zoo. Gefängnisse behagen mir nicht, schon gar nicht, wenn sie vorgeben keine zu sein. Vielleicht interessiere ich mich auch nicht genug für Tiere. Aber heute ist es anders, ich habe das Gefühl eine Oase zu betreten, eine Oase mitten in der steinernen Stadt. Die Bäume wiegen sich sachte im Wind, in ihrem Schatten ist es lauwarm. Zum ersten Mal an diesem Tag gehe ich ohne Hast, ohne eigentliches Ziel. Auch die Gehege stören mich nicht, sie liegen am Wegrand wie Fotografien. Die Tiere darauf sind friedlich, sie blinzeln in die Sonne. Bis auf die Giraffe. Ich habe sie nicht gesehen, und jetzt steht sie vor mir. Da ist kein Zaun zwischen uns und kein Graben, mitten aus dem Weg wächst sie in die Höhe. Ihre Beine zittern. Sie macht komische Geräusche, als ob sie husten müsste. Es dauert lange, wegen des Halses wahrscheinlich, und wenn es herauskommt, ist es ein Rasseln. Die Giraffe rasselt und rasselt, dabei schaut sie mich mit grossen dunklen Augen an, als wolle sie mich an etwas erinnern. Dann  verstehe ich, dass sie ein Wecker ist. Die Giraffe ist mein Wecker, und ich erwache.

Stephan Schoenholtz, 13.12.2012     


entfalten

die spanische wand falten,

das denken falten,

worte falten,

dann uns an unseren hautfalten halten,

ausgehend ineinander gehen,

geräusche entfalten,

und düfte,

wie tiere,

der wecker wäre eine giraffe.

sarah king, 6.12.2012


Vorschlag

Die Mauer zwischen uns ist

gar kein Hindernis. Am Morgen

klingelt ja dein Wecker laut

in meinem Zimmer! Ich habe dich

den lieben langen Tag vor Augen und

am Abend gleite ich in einem Nebel

aus Parfum aufs Bett.

Eigentlich ist sie nicht mehr

als eine spanische Wand.

Ich falte sie zusammen.

Wollen wir nicht

endlich ausgehen miteinander?

Stephan Schoenholtz, 01.12.2012   


Echt?

Mit Lockenwicklern in den Haaren (zwei grosse Rollen, die sie jeden Morgen hastig ein- und erst mittags wieder ausdreht) steht sie im Türrahmen, in einen pinkfarbenen Morgenmantel und Zigarettenrauch gehüllt. Sie klimpert mit dem Autoschlüssel. Bereit? Eine Antwort wartet sie nicht ab, greift stattdessen zur Parfumflasche neben dem Toaster, sprüht etwas davon in ihren Ausschnitt und in meinen auch gleich, ruft den Kindern im ersten Stock zu, sie sollen sich beeilen, drückt die Zigarette aus, zündet sich die nächste an und huscht davon. Ich bleibe sitzen, bis ich die Kinder schreiend die Treppe runterpoltern höre, vier sind es, eines grösser als das andere, das kleinste reicht mir bis zum Bauchnabel und das grösste ist ein Mädchen.

Der Grösse nach geordnet sitzen die vier hinten im Jeep und wirken erwachsen in ihren weissen Hemden und blauen Uniformen. Ich sitze vorne links auf dem Beifahrersitz, kurble das Fenster runter (es geht automatisch auf mit Knopfdruck, was schwieriger zu beschreiben ist), da mir schwindlig ist vom Parfum in meinem Ausschnitt. Während wir durch die verwinkelten Quartierstrassen fahren, stelle ich mir vor, wie der Duft zum Fenster rausströmt, durch die Backsteinritzen ins Innere der Häuser schleicht, wo alle benebelt zu Boden gleiten, wie ich damals mit dem Lachgas in der Nase, als man noch Lachgas in die Nasen gab.

Der Grösse nach werden die Kinder ausgeladen, jedes an einem anderen Ort, wo viele andere Kinder stehen und reden, erwachsen, mit weissen Hemden und blauer Uniform. Als das letzte weg ist, gibt sie Gas auf dem Weg dorthin wo jedes Jahr, kreuz und quer durch die dichtbefahrene Grossstadt, auf Nebenstrassen, damit uns keine roten Busse vor die Kühlhaube fahren, hin zu diesem Warenhaus, das so gross ist wie die Schweiz, oder vielleicht so gross wie Bern, meint sie, und wo wirklich alles echt ist. Wirklich echt?, frage ich wie immer, worauf sie auch wie immer den Kopf zurückwirft und lacht, bis die Lockenwickler wackeln.

Sarah King, 21. November 2012


Einsilbige Fragen und bestätigende Einsilber

„Bist du ok?“

„Mhm.“

„Echt?“

„Ja.“

„Ich glaub nicht.“

„Was?“

„Dass es dir gut geht.“

„Doch.“

„Ist ja nicht oft so.“

„Was?“

„Dass es dir gut geht.“

„Stimmt.“

„Aber jetzt schon?“

„Klar.“

„Ich weiss nicht.“

„Mol.“   

„Ja?“

„Mhm.“

Stephan Schoenholtz, 14.11.2012   


Fazit in drei Akten

Akt 1:

Schreiend hechten die Damen ins Wasser, den Schuhen hinterher, seien es noch so abgetragene Latschen, derer sich die „sie“ aus der vorletzten Episode endlich entledigt hatte – und nein, sie jagen nicht nur nach den Schuhen, sondern tragen sie dann noch wie eine Katze die tote Maus zu ihren Männern, präsentieren stolz ihren Fang und betteln um Lob, Tadel oder einfach um ein paar bestätigende Einsilber, obwohl das den Herren, selbst wenn abgehackte Füsse in den Schuhen wären, höchstens ein Bond-getreues Schade um die Schuhe entlocken würde, was die Frau nicht bekümmert, da sie gerade im Begriff ist, rührselig zu werden beim Anblick des netten Pärchens.

Akt 2:

Ja, doch, die Frau kann noch lernen.

Akt 3:

Dennoch die leise Neugierde, was wohl mit den Schuhen geschah.

Sarah King, 06.11.2012 


Paare

„Harald.“ Er rührte sich nicht. Nur sein Bauch hob und senkte sich gemächlich in der Nachmittagssonne. „Harald.“ Er blinzelte unter seiner Schirmmütze zu ihr herüber. Sie hielt den Schuh hoch. Der Stoff hatte sich mit Wasser vollgesogen, es war gar nicht leicht gewesen, ihn aus dem Wasser zu ziehen. Der Bauch ihres Mannes begann auf und ab zu tanzen. „Dein erster Fang?“ Er hustete. Sie trat aus dem Schatten des Segels, setzte sich neben ihn. „Was denkst du?“ „Dass du noch viel lernen musst.“ „Ich wollte ihn rausfischen. Er schwamm direkt vor dem Bug.“ Sie drehte den Schuh in den Händen. „Es ist ein Frauenschuh. “ „Ah ja?“ Harald lehnte sich zurück und schloss die Augen wieder. „Der rechte.“ Irene sah auf den See, dessen Oberfläche sich zog und zog, sich spannte wie eine Plastikfolie. Es war ein kleiner Schuh, der Schuh eines Mädchens vielleicht. Einer jungen Frau, die ihn verloren hatte. Beim Segeln. Ein dummer Scherz unter Freunden. Wie schnell landet ein Schuh im Wasser? Und wie lange schwimmt er? Das Ufer war weit entfernt, die Spaziergänger dünne Silhouetten. Keine Surfer heute, kaum ein Boot. Einzig das Boot der Ledermanns schaukelte in einigen Metern Entfernung. Und Anne hatte lange schlanke Füsse, wie sie selbst.

Als Anne den Leinenschuh entdeckte, schlüpfte sie kurzerhand in den Badeanzug und liess sich ins kalte Wasser. Sie brauchte nur wenige Züge. Einen Moment lang beobachtete sie, wie der Schuh vor ihr schwamm, den kleinsten Wellen nachgebend. „Wie ein Boot, ein Ruderboot“ sagte sie staunend zu Philipp, während sie sich energisch trocken rieb. „Es ist ein Frauenschuh. Ein linker.“ „Der ist ja gar nicht nass.“ „Verrückt, oder?“ Philipp nickte und fühlte mit der Hand in den Schuh. Er schüttelte den Kopf. „Was?“ „Ich dachte, da wäre vielleicht eine Nachricht drin. Eine  Flaschenpost.“ Anne lächelte. „Schuhpost.“

Sie segelten gemeinsam zurück. Irene war der Meinung gewesen, sie sollten von ihrem Fund berichten, die Schuhe abgeben, bei einer Polizeistation. Vielleicht wurde schon jemand vermisst. Während sie sich dem Ufer näherten, sah Anne auf die Schuhe, wie sie im Bug standen, einer neben dem anderen. Ein Paar, dachte sie, und lächelte.

Stephan Schoenholtz, 05.11.2012   


Schuhe

Sie blieb stehen, streifte die Schuhe von den Füssen, hob sie auf und trat ans Seeufer. Zwei Segelboote schaukelten still in der Ferne. Kein Wind. Sie holte aus und warf ihren rechten Schuh weit auf den See hinaus. Wo er ins Wasser tauchte, breiteten sich kleine kreisförmige Wellen aus. Ihren linken Schuh setzte sie auf die Wasseroberfläche und gab ihm einen leichten Schubs, so dass er ein Stück vom Ufer wegtrieb. Sie schauten auf den See hinaus. „Sie werden untergehen“, sagte Fabian. „Oder rudern“, erwiderte sie.

Sarah King, 25.10.2012


Strich für Strich

„Hallo.“ Die Stimme in seinem Rücken klang wie eine Frage, wie ein erstauntes Lachen, das er sofort vor sich sah. Der Angler an seine Seite hatte sich nicht gerührt. Vielleicht war es Einbildung, Wunschdenken. „Fabian?“ Er drehte sich um. Sie stand ziemlich nah vor ihm, die Hände tief in die Taschen ihres dunkelblauen Mantels geschoben. Wie er sie in Erinnerung hatte, Strich für Strich. „Seit wann bist du zurück?“ Seine Überraschung schien sie zu freuen. „Seit einer Woche.“ Er senkte den Blick, aber sie verschwand nicht, blieb ihm gegenüber stehen in ihren leicht abgetragenen Leinenschuhen. „Was machst du gerade?“ Er zuckte mit den Schultern. Er war oft zum Seeufer gegangen, seit sie hier mit ihm gesessen hatte. Fast jeden Tag. „Du?“ „Ich muss zum Bahnhof.“ Der Weg entlang des Ufers war menschenleer. Sie gingen nebeneinander. „Ich dachte, du wärst am anderen Ende der Welt.“ Sie schüttelte den Kopf. Er fragte sich, ob sie sich auch gerade die unermessliche Distanz vorstellte, die zwischen ihnen gelegen hatte und ob sie sich genau so wie er wunderte über den schmalen Weg, auf dem sie jetzt gingen. Hätte er seinen Arm ausgestreckt, er hätte ihn um ihre Seite legen können.

Stephan Schoenholtz, 18.10.2012    


Was tun Sie da?

„Was tun Sie da?“ Der Besucher flüsterte und blickte sich verstohlen um. Barbara setzte den Pinsel an und malte. „Was tun Sie da?“ flüsterte er nun etwas eindringlicher. Sie warf einen kurzen Blick auf den Mann neben sich. Auf seiner Stirn bildeten sich kleine Schweisstropfen, obwohl es kühl war im Raum. „Ihnen ist warm“, sagte sie. Er strich sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Wissen Sie, wie teuer dieses Bild ist?“ Sie betrachtete das Bild und runzelte die Stirn. „Nein.“ – „Ich auch nicht. Aber vielleicht 200'000 Franken.“ Er flüsterte immer noch. „200'000 Franken?“ Barbara liess den Pinsel sinken. „Psst!“, der Besucher sah sich erneut verstohlen um. „200'000 Franken?“, wiederholte sie leise. „Für dieses Bild?“ Er streckte seinen Rücken und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was ist damit nicht in Ordnung?“ Barbara trat dicht vor das Bild und gab dem Mann ein Zeichen, näher zu treten. „Der Angler lächelt nicht“, flüsterte sie, „da ist kein Fisch der anbeisst, und der Beobachter steht stumm daneben. Das kauft niemand.“ - „Das Bild hängt hier nicht zum Verkauf, sondern zum Betrachten.“ Er räusperte sich kurz. „Was fehlt denn?“ Barbara überlegte eine Weile. „Ein Lächeln.“ – „Ein Lächeln verkauft sich nicht.“ – „Sie sagten doch, das Bild stehe nicht zum Verkauf.“ – „Alle würden an diesem Bild vorbeigehen.“ Barbara sah sich in der leeren Ausstellungshalle um, zuckte die Schultern und fuhr fort mit ihrer Arbeit.

Zuerst setzte sie an den Mundwinkeln des Anglers an und veränderte die Linien leicht nach oben. Er machte einen zufriedenen Eindruck. Dem stillen Beobachter malte sie einen Spazierfreund an die Seite, der gestikulierend redete. Vier ballspielende Kinder platzierte sie weit hinten im Bild. „Warum so weit weg?“ unterbrach sie der Besucher. „Damit die Fische nicht fliehen.“ Noch ein paar letzte Striche.

Barbara trat einen Schritt zurück. „Was meinen Sie?“ Der Besucher rümpfte die Nase. „Pathetisch.“ – „Ein Lächeln ist pathetisch?“ –„Wer sagt, dass der Fischer lächeln will und der Beobachter Freude hat an Gesellschaft? Die beiden suchen vielleicht etwas anderes.“ Er nickte ein paar Mal und fuhr fort: „Ja, sicher sogar. Jetzt haben Sie ihnen etwas aufgedrängt. Oder ... nein, Sie haben ihnen etwas weggenommen.“

Ein Geräusch an der Tür schreckte Barbara auf. Fabian. Über Farbtöpfe, Pinsel und Altpapier hinweg balancierte er auf Barbara zu. Sie blickte zum Fenster hinaus, wo Tannzweige wie kleine Gnome im Wind tanzten. Langsam krochen Abendschatten über den Boden des Ateliers. Barbara fühlte die Schweisstropfen auf ihrer Stirn und wischte sie mit dem Handrücken weg. Dicht vor dem Bild blieb Fabian stehen. Er zog seine Jacke enger um sich, richtete seinen Blick aufs Wasser und wartete.

Sarah King, 8. Oktober 2012


Am Wasser

Er schaute zu dem Angler herüber. Von der Jacke des Mannes leuchteten gelbe und rote Streifen, die einzigen Farben weit und breit. Er stellte sie sich in Bewegung vor, ein Feuer am Ufer des Sees. Doch der Angler sass still auf dem Felsen, den Blick auf das Wasser gerichtet. Seinen Gruss hatte er mit einem Kopfnicken beantwortet. Fabian hätte gerne geredet. Irgendetwas. Er hätte den Mann gefragt, ob er schon was gefangen hatte. Der leicht verschmutzte Eimer stand zu weit entfernt, als dass er hineinschauen konnte, und er traute sich nicht näherzutreten. Die Angel, ausgeworfen, ruhte in einem Ständer zu Füssen des Mannes. Die Arme hielt er vor der Brust verschränkt, und obwohl sein Blick auf den See ging, schien er der Leine keine Aufmerksamkeit zu schenken. Würde sie sich jetzt bewegen, er würde es nicht bemerken. Das schwache Zucken nicht, auch nicht das Zerren. Fabian müsste die Angel nehmen und die Kurbel betätigen, den Fisch gegen allen Widerstand aus dem Wasser ziehen. Er würde ihn vor sich sehen, in der Luft, sein Gewicht spüren. Aber die Angel blieb unbewegt. Fabian zog seine Jacke enger um sich, richtete den Blick aufs Wasser und wartete.     

Stephan Schoenholtz, 5.10.2012   


Theodor und der Fisch: Fünf von 101 möglichen Varianten

Theodor angelte einen Fisch und sagte: „Fisch, ein Schlag, dann bist Du tot.“ Der Fisch dachte eine Weile über Theodors Worte nach, spuckte schliesslich den Wurm aus, sprang zurück ins Wasser und dachte: „Heute will ich Vegetarisch.“ Theodor verhungerte.

oder

Theodor angelte einen Fisch und sagte: „Fisch, ein Schlag, dann bist Du tot.“ Der Fisch konnte nichts darauf sagen, weil dieser verdammte Haken in seinem Mund festklemmte. Theodor wartete sehr lange auf eine Antwort und verhungerte.

oder

Theodor angelte einen Fisch und sagte: „Fisch, ein Schlag, dann bist Du tot.“ Der Fisch machte ein trauriges Gesicht. Theodor hatte Mitleid und verhungerte.

oder

Theodor angelte einen Fisch und sagte: „Fisch, ein Schlag, dann bist Du tot.“ Der Fisch spuckte den Wurm aus und sagte: „Theodor, hast Du Dir das gut überlegt?“ Theodor überlegte sich das gut und verhungerte.

oder

Theodor angelte einen Fisch, erschlug ihn mit einem Schlag und gerade als er ihn essen wollte, fiel ihm ein, dass noch gar nicht Freitag war. Darum ging er in eine Beiz und bestellte ein Pouletschnitzel.

Sarah King, 25.09.2012


Aussteiger

Seit Tagen habe ich kein Auto mehr gesehen. Hin und wieder höre ich ein Hupen in der Ferne. So weit bin ich nicht weggegangen, dass ich sie nicht mehr hören könnte. In solchen Momenten sehe ich die Wagen vor mir, ihre Karosserien und Motoren, als führen sie gerade in die Garage, damit ich mich um sie kümmere. Als riefen sie mir von Weitem zu, was ihnen fehlt, in der Hoffnung, ich würde meine Sachen packen und zurückkommen. Einmal war ich kurz davor. Ich hatte schon begonnen, die Heringe aus der Erde zu ziehen. Der Boden war weich und feucht, er roch nach dem alten Garten, früher. Das Zelt begann in sich zusammenzusacken, bald würde es nicht mehr sein als eine Kunststoffrolle, die ich unter dem Arm zwischen den Bäumen hindurch trug, dem Ausgang des Waldes entgegen. Da liess ich das Zelt sein, liess es halb abgebrochen stehen und legte mich auf den Rücken. Ich fühlte mich unglaublich schwer. Ein inneres Gewicht war das, es zog mich an den Boden, trotz der Unebenheiten und der harten Wurzeln und Äste. Ich hatte das Gefühl, dass ich nie wieder aufstehen könnte und begann zu weinen. Es musste Jahre her sein, seit ich zuletzt geweint hatte. Die Tränen liefen mir aus den Augenwinkeln über die Schläfen und Ohrläppchen und tropften auf das Laub unter meinem Kopf. Es schüttelte mich, und so, wie ich vorher glaubte, ich könnte nicht mehr aufstehen, dachte ich jetzt, dass ich mit dem Weinen nicht mehr aufhören könnte. Als es weniger wurde, konnte ich mich setzen, ganz einfach. Ich stand ohne Probleme auf, und dann begann ich durch den Wald zu rennen. Mein Körper war so leicht, es hätte mich nicht gewundert, wenn ich abgehoben hätte und herumgeflogen wäre. Irgendwann bekam ich keine Luft mehr, setzte mich und weinte noch einmal. Dann war es gut. Ich zog die Riemen des Zeltes straff, steckte die Heringe tief in die Erde zurück. Seitdem habe ich sie nicht mehr herausgezogen. So bald werde ich nicht zurückgehen, auch wenn mir die Arbeit fehlt. Das Blech und das Metall, die Geräte und die vielen kleinen präzisen Handgriffe. Ein paar Werkzeuge habe ich mitgenommen, aber es gibt kaum eine Gelegenheit sie zu benutzen. Ich habe eine Angel geschnitzt, eine Schnur und einen Haken daran befestigt. Es ist nicht dasselbe. Das Material ist anders, beweglich, als wäre es am Leben. Alles, was ich hier in die Hand nehme, ist so. Ausser den Steinen vielleicht. Ich versuche, die Angel möglichst still zu halten. Beisst einer an, muss ich ihn rausziehen und erschlagen. Der Stein liegt neben mir. Ein Schlag müsste reichen.

Stephan Schoenholtz, 18.09.2012    


Kompromisse

Kühlschranksurren, Autohupen in der Ferne, das weisse Licht des Computers kommt und geht – Schlafmodus, wandernde Schatten über die Wand verziehen de Bergeracs Gesicht zu einer Fratze, der Boden knarrt beim nächsten Schritt, innehalten, horchen, Stille, sich der Mitte entlang bis zur gemeinsamen Erinnerung herantasten, nicht zu hoch, nicht zu tief, sie lacht, er lehnt sich an ihren Arm, goldene Mitte: keine Diskussion, kein durchgesetzter Wille, Kopfeinziehen und Zehenspitzen halten die Erinnerung lebendig, die mit einem Nagel festgemacht ist, der festsitzt, selbst mit Beisszange ein Kraftakt, horchen, Stille, den Nagel neu ansetzen, einen halben Kopf höher, Konzentration auf den Hammer, der im Dunkeln mehr erahn- als sichtbar ist. Ein Schlag muss reichen, ein Schlag reicht, die Erinnerung neu platzieren, geschätzt begradigen, auf Augenhöhe. Vorsichtig leise legt sie sich wieder neben ihn ins Bett.

Sarah King, 11.09.2012


Augenhöhe

Jetzt hängt es. Im Wohnzimmer, zwischen den Bildern, Zeitungsausschnitten und Plattencovern, die im Laufe der Jahre ihren Platz an den Wänden gefunden haben. Wir hatten nie eine Ordnung im Sinn, wir begannen einfach irgendwann nach dem Einzug, mit der Postkarte, glaube ich. Tanja steckte die Karte in den Türrahmen, die bekannte von dem Mann, der seinen Schirm über ein Cello hält, irgendwo in Paris an einem verregneten Nachmittag. Ich hatte sie ihr geschickt, kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, und sie hatte sofort verstanden. Tanja ist Cellistin. Ich bin Physiker. Das erste, was ich aufhängte, war ein grossformatiger Artikel über Albert Einstein. Die Abbildung eines Teilchenbeschleunigers  heftete ich an die Aussenseite meines Bücherregals, während Tanja über dem Stellplatz des Cellos ein „Cyrano de Bergerac“ - Poster anbrachte, das nie ganz gerade hing. Das Foto hingegen hängt gerade inmitten unserer langsam gewachsenen Wanddekorationen, aber das ist es nicht. Mein Unbehagen begann nach der Trauungszeremonie, als Olaf zur Aufstellung bat. Olaf ist Hobbyfotograf, und er hat wirklich schöne Bilder gemacht. Er gruppierte uns in allen erdenklichen Variationen mit Freunden und Verwandten, selbst denen, die wir seit Jahren nicht mehr gesehen hatten, um schliesslich zum Herz des Ganzen vorzustossen, zum Brautpaar: Tanja und mir. Olaf fand einen Platz direkt am Ufer des Sees, wobei er die Böschung nutzte, um mich ein wenig höher zu postieren als Tanja. Das schien mir rücksichtvoll. Als nächstes wählte er einen Baumstamm, auf dem Tanja Platz nahm, während ich mal neben, mal hinter ihr stand und meine Arme um ihre Schulter legte. Irgendwann winkte er mich zu sich. „Ich würde gerne noch ein paar Nahaufnahmen von euch machen, im Stehen. Würde es dir etwas ausmachen, dich dafür dorthin zu stellen, auf diesen Stein?“ Ich musste lächeln. „Ich weiss deine Mühe wirklich zu schätzen, aber ich glaube… Jeder weiss doch, dass Tanja grösser ist als ich.“ „Das ist eine ästhetische Frage. In Hollywood achten sie auf solche Dinge. Tom Cruise ist kleiner als die meisten seiner Partnerinnen, aber siehst du das?“ „Bei uns sieht man das immer. Es gibt so viele Bilder, auf denen wir - “ „Das sind eben nicht irgendwelche Fotos. Das sind die ersten Bilder von euch als Ehepaar. Und als Paar solltet ihr auf einer Augenhöhe sein.“ „Weisst du, ich wäre wirklich froh, wenn wir noch ein paar Bilder machen könnten, auf denen man uns sieht, wie wir sind. Massstabsgetreu, sozusagen.“ Ich zwinkerte Olaf zu. Es fiel ihm sichtbar schwer, aber er fügte sich. Und fotografierte uns, wie wir Hand in Hand am See entlang schlenderten, immer näher auf die Kamera zu. Einmal müssen wir beide lachen, Tanja reisst Mund und Augen auf und ich lehne mich an ihren Oberarm, ich erinnere mich genau. Das ist unser Bild geworden, unser Hochzeitsbild, und da hängt es jetzt, inmitten unseres ganzen Sammelsuriums. Wir haben es sogar gerahmt, es ist der erste Rahmen im Wohnzimmer. Es war auch das erste Mal, dass wir wirklich gemeinsam etwas aufhängten. Tanja hielt das Bild an, und ich kniff die Augen zusammen und fand, die rechte Ecke sei höher als die linke. Sie korrigierte die Ecke nach unten. „Ah, jetzt ist die linke Ecke zu weit oben.“ Tanja verschob das Bild erneut. Ich schüttelte den Kopf und zeigte mit dem Daumen nach unten. Plötzlich streckte mir Tanja das Bild entgegen. „Vielleicht willst du es mal anhalten?“ Ich nahm den silbernen Rahmen und ging damit zur Wand. „Das ist viel zu tief.“ „Vorher war es zu hoch.“ „Das fand ich nicht. Es war gerade auf Augenhöhe.“ „Auf deiner Augenhöhe.“ „Es ist unser Hochzeitsbild. Ich möchte mich nicht bücken, um es anzuschauen.“ Tanja zog den Kopf grotesk zwischen die Schultern. Ich streckte das Kinn in die Luft. „Und ich möchte keine Nackenstarre dabei kriegen…“ Wir mussten beide lachen. Nach einigem hin und her einigten wir uns natürlich auf eine mittlere Position. Und eben, da hängt es jetzt.       

Stephan Schoenholtz, 02.09.2012   


Die Verwandlung

Und plötzlich verwandelst Du Dich von einer Skizze in ein Bild, mit weichen Konturen, von fremder Hand gezeichnet, schaust mir zu, wie auch ich mich allmählich von einer Skizze in ein Bild verwandle, bis wir uns auf Augenhöhe gegenüberstehen. So bist Du nun also mein Bild und ich Deines, beide ohne Rahmen, äusserlich gefasst.

Sarah King, 26.08.2012


Kleingedrucktes

Es gibt Tage, die sind wie Schlagzeilen, in fetten Lettern bleiben sie uns im Gedächtnis stehen. Die meisten Tage meines Lebens ähneln dem Kleingedruckten. Das Erlebte rutscht zusammen wie die Zeilen auf der Altpapierseite eines Lokalblattes. Es ist nicht leicht, solche Tage zu erzählen. Heute war wieder so einer. Ein Mittwoch. Ich stand auf, verbrachte den Tag hinter dem Schalter der Eisenbahngesellschaft, für die ich seit Jahren arbeite, und ging abends nach einem Essen vor dem Fernseher schlafen. Der kommende Mittwoch könnte zu einer Schlagzeile geraten: „Wir gratulieren Herrn Mittelmann zu seinem 10jährigen Dienstjubiläum.“ Dieser Mittwoch jedoch verlief zwischen den Zeilen. Auch der Sturz in der Mittagspause. Zwischen all den Füssen fällt ein gestürzter Bahnangestellter nicht auf. Mir war nie bewusst gewesen, wie viele Paar Beine und Füsse sich durch die Bahnhofsgänge bewegen, ich hatte ihnen nie auf Augenhöhe dabei zugesehen. Mein Knie schmerzte, halb vom Aufschlag auf dem Steinboden, halb von dem Becher Kaffee, den ich darüber geschüttet hatte. Am meisten schmerzten aber die geschäftigen Füsse, die an mir vorüber eilten, und die wartenden Füsse, die in langer Weile verharrten. Ich hätte heulen mögen. Ist das eine Schlagzeile wert? Einen mitleidigen Blick? Eine helfende Hand? Nicht doch. Es ist nicht mehr als eine klein gedruckte Zeile unter vielen anderen.      

Stephan Schoenholtz, 13.08.2012 


Schlagzeilen

Wie jeden Morgen betrat er das Kaffee, ging zum Zeitungsständer, nahm vier Tageszeitungen, bestellte einen Espresso, bezahlte, gab fünfzig Rappen Trinkgeld, setzte sich an den hintersten Tisch, stürzte den Espresso in einem Zug runter, schob die leere Tasse beiseite und breitete die Zeitungen vor sich aus.

Von hinten nach vorne blätterte er von Seite zu Seite, las die Schlagzeilen, niemals mehr, dafür jede einzelne, auch die kleingedruckten, die scheinbar banalen wie zum Beispiel „Lama setzt öffentlichen Verkehr ausser Gefecht.“

Hätte er den Text unterhalb der Schlagzeile gelesen, wüsste er, dass mit dem öffentlichen Verkehr nicht etwa pauschal alle Schiffe, Flugzeuge, Busse, Trams und Züge gemeint waren, sondern lediglich eine Schweizer Eisenbahn, nicht die grösste und schnellste, die mit ihrem Stundenrhythmus sowieso dauer-ausser-Gefecht erschien für das urbane Volk, das sich eine im Zehnminutentakt vorbeidonnernde U-Bahn gewohnt war.

Er wüsste auch, dass das Lama die Eisenbahn nicht wirklich ausser Gefecht gesetzt, sondern lediglich verlangsamt hatte, da es aus einem kleinen Streichelzoo ausgebüxt – stopp! – hier hätte er schon ein erstes Mal gestutzt und sich über die Konstellation „Lama – Streichelzoo“ Gedanken gemacht, wobei er zum Entschluss gekommen wäre, dass er ein Lama nicht streicheln würde, weil er allen Wesen aus dem Wege zu gehen pflegte, die ihn anspuckten, seien es pfeifenrauchende Alte, ambitionierte Jogger oder Vielredner mit nasser Aussprache, weshalb er am liebsten nur mit jenen redete, die vom wenig Reden einen eingetrockneten Mund hatten, also eigentlich mit jenen, die mit leicht klebender Zunge in elliptischen Schlagzeilen sprachen.

Er wüsste also, dass das Lama ausgebüxt und auf schnellstem Weg aus der Deutschschweiz in die Romandie flüchten wollte. Was es dort wollte, hätte er dem Text nicht entnehmen können, aber er wäre zumindest darüber informiert gewesen, dass es unbeirrt den Gleisen entlang trabte, wenig beeindruckt von der ihm auf den Fersen folgenden hupenden Lok, die des Lamas wegen ihrem Namen nun erst recht nicht mehr gerecht wurde.

Er las aber nur die Schlagzeile, wie er analog dazu bei Büchern nur die Kapitelüberschriften las und von Menschen nur die Titel kannte, weshalb er sich an jenem Morgen sogleich ein Auto kaufte.

Sarah King, 8. Juli 2012


Im Dschungel

bin ich König. Inmitten des Chaos. In der Hitze des Gefechts. Ein Schutz gegen die Winde aus der Arktis und den peitschenden Regen. Ich lebe im wilden Wald der Gefühle. Hier bin ich König. König des Dschungels.  

Stephan Schoenholtz, 29.06.2012  


sans mots 

Hin.mp3

Sarah King, 17.6.2012 

Gegenvorschlag („Hart Aber Herzlich“) 

Für volles Risiko bei rosaroten Wolken.  

Stephan Schoenholtz, 03.06.2012


Initiative

Für Airbag-Obligatorium bei rosaroten Wolken.

Sarah King, 26. Mai 2012


Liebestransport

Zuerst sah er die Wolke nicht. Dann merkte er, dass er mitten darin stand. Sie war mit Kreide auf den Boden vor der Haustür gemalt, in Rosa und Rot. Jetzt hob sie sich, und ihn mit sich, er schwankte leicht. Er sah den Briefkasten von sich fortgleiten, den er hatte öffnen wollen. Ein Haus nach dem anderen zog vorüber. Die Wolke war weich unter seinen Füssen, sie federte ein wenig, gerade so, wie er sich ein Luftkissenboot vorstellte. Das Gewicht seines Aktenkoffers schien ihr nichts auszumachen. Es stimmte, er war auf dem Weg zur Arbeit, die Wolke trug ihn sachte voran, er schwebte zur Arbeit. Was seine Kollegen wohl sagen würden, wenn er so auf das Bürogebäude zukäme? Nicht mit dem üblichen schlaksigen Gang, sondern auf einer kleinen rosa Wolke schwebend? Was sie sagen würde? Zum ersten Mal an diesem Morgen musste er lächeln.    

Stephan Schoenholtz, 19.05.2012 


Verneigungslos

Schritte hallen in den Gassen, Zwerchfelle heben und senken sich im Takt. Der Regen spült den Schweiss in die Senklöcher; mit ihm alle Fragen, Bitten, Antworten. Über den Pflasterstein fegt gedankenlos eine bunte Wolke.

Sarah King, 12.05.2012


Blätterrauschen

Er verneigte sich vor dem Buch. Es war ein überdimensionales Volumen, das in der Mitte des Raumes thronte. Die Seiten schimmerten golden. „Ich bitte Dich“, sprach er leise, „verrate mir das Geheimnis.“ Er fühlte sich schäbig in seinen abgetragenen Hosen, dem schlichten Hemd. Ein einfacher Bittsteller war er, mehr nicht. Wie konnte er auf eine Antwort hoffen? „Verrate es mir.“ Mit einem Mal war ihm, als komme Bewegung in die Seiten. Sie schienen sich zu heben und zu senken, als habe das Buch zu atmen begonnen. Es klang wie das Rauschen des Windes im Wald, und langsam wurde ihm warm und er schloss die Augen.             

Stephan Schoenholtz, 6.05.2012    


Anfang

Es muss weit nach Mitternacht sein. Er sollte die Lampe anknipsen, das Fenster klappen und das Bett aufschlagen. Stattdessen schaltet er den Computer wieder ein.

Immer wieder liest Aline die drei Sätze. Erich sitzt neben ihr und schreibt mit Bleistift Bemerkungen in die Klaviernoten seiner Schüler. Verwundert hebt er den Blick, als Aline das Buch mit einem lauten Geräusch zuklappt. „Fertig?“ Sie nickt zuerst und schüttelt dann den Kopf. „Ich habe es bis zur letzten Seite gelesen.“ – „Und? Happy End?“ Aline denkt eine Weile nach. „Schwer zu sagen. Während 500 Seiten fängt es immer wieder an und hört doch nie auf. Im letzten Satz auf der letzten Seite schaltet Gregor den Computer wieder ein und weckt die Erwartung eines neuen Anfangs. Aber da ist nur noch der Buchdeckel.“ Erich lächelt. „Zu meinem Glück.“ Er legt den Bleistift zur Seite, drückt seine Handflächen aneinander und macht eine leichte Verbeugung vor dem Buch. „Danke Buch, dass Du meine Frau freigibst, wenn auch Du alles offen lässt.“ Fragend blickt er sie an. „Und jetzt?“ Sie lehnt sich zurück, streckt ihre verspannten Glieder und schliesst die Augen. „Nichts.“ – „Das ist ein Anfang.“ - Ende -

Sarah King, 29.04.2012


Alines Lachen

Gregor schaltet den Computer aus. Ein letzter Schimmer, das geheimnisvolle blaue Leuchten, dann wird es dunkel. Gregor bleibt am Schreibtisch sitzen. Alines Lachen klingt ihm noch in den Ohren. Sie hat ja verschiedene Arten zu lachen. Ein schnelles quirliges Staccato, das plötzlich hervorschiesst und sie förmlich nach hinten drückt, und dann dieses hier, das beinahe lautlos beginnt, wie ein sanftes Atmen, Mund und Augen weit geöffnet, das Kinn leicht vorgestreckt, als habe sie eine freudige Entdeckung gemacht. Gregor sitzt unbewegt in der Dunkelheit. Es muss weit nach Mitternacht sein. Er sollte die Lampe anknipsen, das Fenster klappen und das Bett aufschlagen. Stattdessen schaltet er den Computer wieder ein.    

Stephan Schoenholtz, 22.04.2012


Musikerkrampf

Sie könnte ewig so weiter gehen. Einer Eingebung folgend verlässt sie den Fussweg und schreitet durch das unebene Gelände, zwischen Sträuchern und Bäumen hindurch. Ab und zu hört sie ein Rascheln im Laub. Sie stellt sich die Maus vor, die sich schützend vor fremden Blicken unter der Erdoberfläche ihren Weg bahnt, blind und zuversichtlich, dort anzukommen, wo sie hin will. Aline streift sich die Schuhe von den Füssen und beginnt zu rennen. Mit jedem Schritt vertreibt sie die Kälte aus ihrem Körper, die sie ein paar Minuten zuvor unter Gregors Fenster noch gespürt hatte. Sie verstand nicht, warum er sie so sehnsüchtig und doch misstrauisch angeschaut, sie nicht reingelassen hatte und plötzlich einfach vom Fenster zurückgetreten und verschwunden ist. Eine Weile hatte sie noch dort gestanden, den kalten Wind im Gesicht, die Augen auf das Fenster gerichtet.

„Warum tust Du das?“, hatte sie Erich mal gefragt, als sie einem Kunden einen Tee angeboten hatte, nachdem er ihr sämtliche Klaviersaiten vor die Füsse und eine Palette an Fluchwörtern ins Gesicht geschleudert hatte. Er war ein anerkannter Pianist, der nur auf seinem eigenen Flügel spielte. Das bedeutete, dass er den Flügel für jeden Auftritt mit viel Aufwand an den Konzertort transportieren musste. Sie reiste mit, um den Flügel zu stimmen, egal, wo auf der Welt das Konzert stattfand. Einmal hatte sie den Versuch gemacht, ihm einen guten russischen Klavierstimmer zu empfehlen, damit er nicht die zusätzlichen Reisekosten für sie aufwenden musste. „Er ist der beste“, versuchte sie den Pianisten zu überzeugen. Vielleicht auch, weil sie keine Lust hatte auf die Reise nach Orenburg. „Mag sein. Aber er hört anders als Sie. Also stimmt er auch anders und ich spiele folglich anders. Mit Ihnen habe ich begonnen und mit Ihnen höre ich auf.“ Meist verlief alles reibungslos, sie reist mit, stimmte den Flügel, sah sich die Stadt an, besuchte die verschiedenen Kaffees und Läden, schlief viel und reiste wieder zurück. Vor dem Auftritt sprach er kein Wort, nach dem Auftritt schien die ganze Anspannung von ihm abzufallen, die Worte flossen in Sturzbächen aus seinem Mund heraus. Dann lächelte er sogar. An dem Tag, als er sie wutentbrannt mit den Klaviersaiten bei ihr zuhause aufsuchte, lächelte er nicht. „Sie sind eine Katastrophe. Zerstören meinen Erfolg, mein Leben. Verstehen nichts von Tönen. Sie sind entlassen!“ Sie hörte sich seine Beschimpfungen an, bis er schliesslich weinend vor ihr in die Knie ging. „Meine Finger waren blockiert. Ich wusste jeden einzelnen Ton, hörte und spürte die Melodie im Kopf, kannte die Bewegungen. Aber so sehr ich auch versuchte, meine Finger zu bewegen – sie blieben auf den Tasten liegen wie tote Kaninchen.“ Sie machte ihm Tee, bot ihm ein Bett für die Nacht an, setzte sich ins Wohnzimmer und las ein Buch über Pianisten, deren Motorik vom Musikerkrampf lahmgelegt wird. Im Hintergrund übte Erich, bis er plötzlich sein Spiel unterbrach. „Warum tust Du das?“

Sie wusste es nicht. Es gehörte zu ihr, seit sie denken konnte. War da ein Mensch, den sie nicht verstand, konnte sie nicht von ihm lassen, bis sie ihn zu verstehen glaubte. Jedes einzelne Wort, jede Geste, jedes Verhalten sammelt sie wie ein kleines Schmuckstück, in der Hoffnung, dass sich aus all den einzelnen Teilen am Schluss ein Bild ergibt, das sie nachvollziehen kann. Dasselbe machte sie mit Einstein, mit Kleopatra und ja – auch mit Gregor. Sie durchstöberte Bibliotheken und Bücherläden, las sich quer durch sämtliche Geschichten und Biografien, bis sie auf einen Charakter stiess, der demjenigen glich, den sie gerade zu verstehen versuchte, sie malte Körperteile, Augen, Nasen, Münder, sie schrieb, sie versank im Klang der e-Taste, sie rannte durch den Wald. Und nicht selten verstand sie nach all den Anstrengungen nicht mehr als vorher.

Vor ihr taucht die Waldlichtung auf. Sehen kann sie nichts, es ist dunkel. Aber die Geräusche verändern sich, werden heller und breiter. Sträucher und Bäume stehen sich mit mehr Distanz gegenüber, als wollten sie sagen, dass hier ihre Gemeinschaft aufhört. Aline hebt ihren Blick. Das Licht des Mondes überzieht die Baumgipfel mit einem silbernen Schimmer. Da wo der silberne Schimmer fehlt, führt der Weg zur Lichtung. Sie rennt noch schneller, bis sie aus dem Wald tritt. Ein kleiner steiler Weg führt sie zu einem Bach. Sie legt sich hin, spürt die brennenden Fusssohlen und ihr pochendes Herz. Sie denkt an Gregor, nimmt ihr Handy aus der Tasche, um eine Nachricht zu schreiben, weiss nicht, was sie schreiben soll und steckt es wieder ein. Nach ein paar Sekunden nimmt sie es wieder hervor, tippt „lieber gregor“, löscht es, dann „du fehlst“, löscht es, dann „ich bin gerannt und versteh dich trotzdem nicht.“ Nein, denkt sie, löscht die Nachricht und wirft das Handy schliesslich ins Wasser. Kaum hört sie das leise Platsch des Aufpralls, bereut sie ihre Tat, wie so oft, zieht sich nackt aus und watet durch den Bach bis zur Stelle, wo sie glaubt, das Platsch gehört zu haben. Sie tastet mit den Händen über die Steine findet ihr Handy aber nicht mehr. Sie legt sich in das kalte Wasser, bis ihre Zähne klappern, klettert wieder an Land und reibt sich mit dem Pullover trocken.

Plötzlich muss sie lachen. Alles erscheint ihr so unwirklich, als wäre sie Teil eines Romans. „Gregor“, ruft sie in den Himmel. „Leg den Stift weg oder schalte den Computer aus, ich friere und will mein Handy zurück.“ Dann wird sie still. Mit wem sprach er, als er sich vom Fenster abwandte? Warum war er nicht mehr im Krankenhaus? Der Arzt meinte, es dauere mindestens noch fünf, sechs Tage, bis die Therapieform festlag.

Sarah King, 1. April 2012 


Erste Mission  

Gregor zittert leicht. „Was machst du hier?“ Paul kratzt sich am Bart. „Ich wollte noch einmal nach Dir schauen.“ Paul geht zum Fenster und schliesst es. Sein breiter Rücken nimmt Gregor die Sicht auf den Garten. „Wie geht es Dir?“ „Wie bist Du reingekommen?“ „Durch die Haustür. Was dachtest Du denn?“ „Die Haustür ist verschlossen.“ Paul lächelt. „Durch geschlossene Türen gehen kann ich noch nicht.“ „Hast du Aline gesehen?“ „Wen?“ Gregor geht zum Bett und setzt sich. Er schliesst die Augen und atmet tief durch. Als er sie öffnet, steht Paul direkt vor ihm. „Nein, lass mich. Rühr mich nicht an!“ „Ich wollte nur Deinen Puls nehmen. Gregor, was ist los mit dir?“ „War ich im Krankenhaus?“ Paul schüttelt den Kopf. „Du hattest hohes Fieber, fast drei Tage lang. Da verliert man das Gefühl für Raum und Zeit. Du warst die ganze Zeit über hier. Mit Deinem Vater. Ich bin einmal am Tag vorbeigekommen.“ Gregor steht auf und geht an Paul vorbei zum Fenster. Im Garten ist niemand zu sehen. „Du solltest Dir etwas anziehen.“ Gregor dreht sich langsam zu Paul. „Seit wann hast Du den Bart?“ Paul scheint einen Moment zu brauchen. „Gerade erst. Ich wollte mal was Neues probieren.“        

Einstein hebt ab. „Paul?“ „Ja.“ Einstein atmet tief durch. „Wie ging es?“ „Nicht gut. Der Arme ist völlig durcheinander.“ „Kein Wunder.“ „Ich… ich habe vergessen, mich zu rasieren.“ „Oh, Paul.“ „Es tut mir leid. Sonst habe ich an alles gedacht. Ich komme selbst ganz durcheinander.“ „Ja. Je weniger Ausflüge in die Wirklichkeit, desto besser.“ „Vielleicht war meine Idee doch nicht so gut. – Zum Glück ist Paul nicht aufgetaucht.“ „Allerdings. – Und jetzt?“

Stephan Schoenholtz, 25.03.2012    


Bruchstücke

Ich könnte jetzt so fortfahren. Ich schriebe: „Paul und Gregor stehen sich gegenüber. Gregor zittert leicht. Paul kratzt sich am Bart. Keiner sagt etwas.“  Das würde gut zur Geschichte passen: „Keiner sagt etwas.“ Die wichtigen Dinge werden nicht gesagt. Kaum angetönt verschwinden sie zwischen den Zeilen. Zwischen Hin und Her.

Ich liesse es bei dieser Beschreibung bewenden. „Keiner sagt etwas.“ In der Hoffnung, der Folgetext möge die nötige Aufklärung bringen. Ich will nicht Schuld sein, wenn mein Text die Intention des vorangegangenen Texts verfehlt. Und nehme damit jeder Fortsetzung den Atem.

Wer ist Paul? Warum sieht er Gregor als Bedrohung? Gibt es Paul überhaupt, oder ist er nur Gregors Feder entsprungen? Gibt es Aline? Liebt sie Gregor? Liebt er sie? Und was hat es mit Einsteins Speer-Tick auf sich? Ist er irr? Ist er Gregors Vater, ist Kleopatra die Mutter und wenn ja: wessen Mutter? Und dann das Meerschwein. Es hat eine undankbare Rolle. Dem Gregor läuft es davon, die Aline will es ersäufen, vermutlich, führt es stattdessen im Brotsack spazieren, die Kleopatra wartet Stunden auf der Treppe, in der Hoffnung, das Meerschwein möge zurückkommen. Obwohl es nicht existiert.

Da wechseln Zeiten, Ebenen, Perspektiven. Menschen treffen aufeinander und bevor sie überhaupt wissen, wie sie zueinander stehen, folgt ein Bruch.

Es könnte so viel sein: Einstein wäre der Mörder von Alines Eltern. Vielleicht hat er sie mit dem Speer erstochen und sie im Garten vor dem Haus begraben. (Bin ich nun eine Mörderin?) Gregor und Aline verbrächten eine leidenschaftliche Nacht zusammen und man sähe dabei mehr als nur die Hände und die Nase. Sein Glied, ihre Schenkel. Brüste, Hintern. (Zu trivial?) Kleopatra sässe auf der Treppe und halluzinierte ein Meerschwein, weil sie unwissentlich unter Drogen stünde, die ihr – so müsste es dann der Logik wegen sein – von Einstein in kleinen Dosen verabreicht würden. (Zu oft gelesen?) Der Klaviermann, der hin und wieder in Alines Haus auftaucht, kriegte einen Namen. Vielleicht Erich. Ansonsten ist seine Rolle ganz ok. Erich unterlegt die Geschichte mit Musik. Es könnte auch sein, dass es gar niemanden gibt ausser Gregor. Alles entspringt seiner Einbildung, vielleicht deshalb, weil er in der Tauch-Szene etwas zu lange unter Wasser bleibt, bewusstlos wird und infolge eines Sauerstoffmangels im Gehirn die Welt verdreht wahrnimmt. Vielleicht sitzt er die ganze Zeit in einem Zimmer und wartet und spinnt.

Denkbar wäre auch eine ganz ruhige Geschichte. Aline und Gregor sind ein Paar. Sie leben zusammen, jeder eine Zahnbürste, im Wohnzimmer ein Meerschwein, sie trennen sich etwas abrupt – Fluglinie eben. Für einen Moment bricht ihre Welt in Stücke. Ohne jeden Zusammenhang. Sie sind einfach sehr, sehr traurig. Dann erholen sie sich. Aline steht mit dem Meerschwein vor Gregors Haus. Sie wirft Kieselsteine an die Fensterscheibe. (Ich vergass, dass sie hätte klingeln können.) Er öffnet das Fenster, sieht Aline, verstummt, weil er sie so vermisst hat. (Er wundert sich offenbar nicht, dass sie nicht geklingelt hat.) Aline tritt von einem Bein auf das andere. Wegen der Kälte, wegen der Nervosität – wer weiss.

Jetzt ist da aber noch Paul, der im Türrahmen steht. Er könnte eine Auferstehung des Kraken-Orakels sein. Vielleicht ist er aber auch einfach Paul. Paul, der sich am Bart kratzt. Gregor zittert leicht. Keiner sagt etwas.

Sarah King, 16.3.2012


Kriegrat

Einstein streckte die Hände über das Feuer und rieb sie schweigend. Paul hatte seinen Freund selten so unruhig gesehen. „Setz Dich doch.“ Einstein schüttelte den Kopf. „Ich glaube, Du musst Dir keine Sorgen machen. Er wird schon wieder aus der Sache heraus finden.“ „Aus der Sache?“ Einstein schnaubte leise. „Wenn es nur eine Sache wäre. Ein Ding, ein Ort, den man einfach wieder verlassen kann.“ „Komm.“ Paul entkorkte die Rotweinflasche. „Immerhin hat er uns wieder zusammengeführt, nach so vielen Jahren. Wir lassen uns das Wiedersehen nicht vermiesen.“ Einstein setzte sich, nahm das Glas. „Einen Moment lang hatte ich gehofft, es sei irgendjemand. Einer von Alines üblichen Freunden. Aber als wir uns dicht gegenüberstanden… Einen Moment lang wollte ich ihn wirklich erstechen.“ „Das wäre zu einfach gewesen.“ Paul hob sein Glas. „Auf den Autor. Möge er ein gutes Ende finden. Für uns alle.“ „Möge er möglichst bald wieder verschwinden.“ Einstein trank sein Glas beinahe in einem Zug. „Ich verstehe es nicht. Genügt es ihm nicht, uns ein Doppelleben aufzuzwingen? Muss er sich auch noch selbst in seine Geschichten hineinschreiben?“ „Das ist eine Autorenkrankheit, weisst Du. Sie beginnen damit, sich wer weiss was auszudenken… aber letzten Endes schreiben sie alle über sich selbst.“ Einstein seufzte. „Wir hatten uns gut mit der Sache arrangiert, oder?“ Paul nickte. „Ja, für Doppelgänger hatten wir es ziemlich gut. – Ich glaube, er wird merken, dass ihm das nicht liegt, das Leben zwischen zwei Welten, und dann wird er uns in Ruhe lassen.“ „Ich fürchte, er wird eine Zeit lang brauchen, bis er überhaupt merkt, was los ist.“ Sie schwiegen beide. „Er müsste jemanden kennenlernen.“ Einstein zog die Brauen hoch. „Ein Eremit wie er…“ „Na ja… Wir könnten ein wenig nachhelfen.“ Paul lächelte. „Wenn er sich verliebt, hört er auf zu schreiben. Und wir haben unsere Ruhe.“   

Stephan Schoenholtz, 13.03.2012    

 

Nebelhauch

Ein leises Klopfen holte ihn aus dem Schlaf. Angestrengt lauschte er in die Stille. Nichts. Dann doch – wieder ein leises „Klack“ an die Fensterscheibe. Er setzte sich auf, blickte sich im Zimmer um. Die Schale mit Wasser stand immer noch auf dem Stuhl. Keine Geräusche aus der Küche. Als es wieder klopfte, stand er auf, trat ans Fenster und hielt erschrocken die Luft an. Aline. Endlich. „Was ist los?“, rief sie hoch. In seinem Kopf trat Stille ein. Er hätte gerne etwas gesagt, konnte sie aber nur anschauen. Ihre Wangen waren gerötet, als wäre sie gerannt. Einzelne Haarsträhnen blickten unter der Kapuze hervor. Sie schien ihm in dem Moment so schön, dass er es fast laut gesagt hätte.

„Lässt Du mich rein?“ Aline hielt sich die Arme vor die Brust. Vielleicht fror sie. „Komm hoch, die Tür ist auf.“ Sie schüttelte den Kopf. „Habe ich schon versucht, sie ist zu.“ Seltsam, dachte er, ich lass doch immer auf. Er ging zur Haustür. Sie war verschlossen. Der Schlüssel, der sonst auf dem Möbel neben der Tür lag, war weg. So auch sein Telefon. Er durchsuchte seine Jacken- und Hosentaschen. Nichts. Der Küchentisch war leer. Er trat wieder ans Fenster. „Was willst Du?“, rief er Aline zu. Sie zuckte die Schultern, trat von einem Bein auf das andere. „Ich kam ins Krankenhaus. Aber Du warst schon weg.“ Gregor lachte. „Wie kommst Du denn darauf, dass ich im Krankenhaus war?“ Aline zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Ich hab Dich doch besucht. Einstein und Paul waren auch da.“

Alles drehte sich vor seinen Augen, ein Gedanke jagte den anderen. „Aline", er zögerte, "stehen wir jetzt da und reden miteinander oder habe ich das nur geschrieben?“ Sie runzelte die Stirn. „Denkst Du, Du bist real?“, hakte Gregor nach, während seine Augen nach einem Hinweis dafür suchten, dass die Frau vor ihm seiner Fantasie entsprungen war. Alles an ihr schien so lebendig. Der weisse Nebelhauch aus ihrem Mund, das Erstaunen in ihren Augen. "Lässt Du mich nun rein?" Sie trat mittlerweile nicht mehr, sondern stampfte von einem Bein auf das andere. Der Himmel war milchig blau. Kalter Wind streifte seine nackten Unterarme. "Ich versuch die Tür aufzubringen", rief er, drehte sich um und blieb abrupt stehen. "Paul!" Der bärtige Mann stand im Türrahmen. "Hallo Gregor."

Sarah King, 4. März 2012


Erste Diagnose

Er hob den Kopf, liess ihn aber sofort wieder sinken, überrascht von der Anstrengung, die es ihn kostete. Sicher war, dass er in seinem Bett lag, im Schlafzimmer seiner Wohnung, und das richtig herum. Das Fenster zum Garten war an seinem Platz, seitlich hinter der linken Schulter: von der dort kam das Licht, wenn auch nur in breiten Streifen, die sich über die Bettdecke legten. Sie schien ihm schwer, vor allem auf der Brust, vielleicht hatte er deswegen Mühe sich aufzurichten. Diesmal schob er die Unterarme zurück und stützte sich vorsichtig darauf. In dieser Haltung verharrte er einen Augenblick, bevor er das Gewicht auf die Handflächen verlagerte und seinen Oberkörper weiter nach oben bog, wie einen biegsamen, doch seltsam widerspenstigen Metallstreifen. Endlich im Sitzen kam er nicht dazu tief durchzuatmen, der Hustenreiz packte ihn unvermittelt, schüttelte ihn durch, liess ihn keuchen und nach Luft schnappen, schien gar kein Ende nehmen zu wollen. Gregor widerstand dem Impuls, sich zurück in die Kissen sinken zu lassen. Tatsächlich hatte er auf zwei Kissen übereinander gelegen. Auf einem Stuhl am Bettrand sah er eine Schale mit Wasser, über der Stuhllehne ein kleines Handtuch. Er hob die Beine aus dem Bett. Der Kontakt mit dem festen Teppichboden tat gut, auch wenn es sich anfühlte, als habe er Storchenbeine, die ihm jeden Augenblick den Dienst versagen mussten. Wie lange hatte er im Bett gelegen? Gregor hielt sich am Fenstergriff fest, drehte ihn dann, zog die Scheiben zu sich nach Innen und schob die Läden nach Aussen gegen die Hauswand. Die Abendsonne schien ihm in die Augen.

„Gregor, um Himmels Willen!“ Einstein drückte ihn sanft zur Seite und schloss rasch das Fenster. Gregor sah ihm zu wie einem Geist. Doch Einsteins Hand auf seiner Wange fühlte sich ganz real an. Der Handrücken berührte kurz seinen Hals. „Das Fieber ist weg.“ Einsteins Hemdkragen stand offen, er trug keine Fliege. „Wie lange bist du schon hier?“ „Seit zwei Tagen. Komm.“ Einstein ging mit ihm zum Bett. „Oder möchtest du ein bisschen aufsitzen? Ich bring dir was zum Anziehen…“ „Es geht schon so.“ Aber Einstein hatte bereits einen Pullover aus dem Schrank gefischt. Gregor legte ihn sich um die Schultern. Er fühlte sich wie ein Kind. „Du hast Glück, dass ich vorbeigekommen bin. Du warst eingeschlafen. Draussen, auf der Bank.“ Einstein wartete. „Ich war gerade am Schreiben…“ Gregor war erleichtert, dass er sich an etwas erinnern konnte. „… wollte kurz Luft schnappen.“ „Weisst du, wie kalt es nachts schon wird?“ „War ich im Krankenhaus?“ Einstein schüttelte den Kopf. „Paul war hier. Du hast eine Lungenentzündung.“ „Paul… Hat Paul… sich einen Bart wachsen lassen?“ „Hast du ihn jemals mit Bart gesehen?“ „Nein.“ Gregor lächelte. „Ich hatte einen seltsamen Traum. Völlig… quer. – Hast du meine Sachen gelesen?“ Einstein erwiderte Gregors Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. „Natürlich nicht.“  

Gregor hörte Einstein in der Küche hantieren, er kochte Tee. Einen Moment lang fühlte er  sich geborgen. Dann merkte er, dass ihm kühl wurde, und zog die Decke schützend um sich.    

Stephan Schoenholtz, 24.02.2012    


Bartgeschichte

Quer im Bett liegen ist nicht angenehm, ausser das Bett ist zwei Meter breit, aber das wäre schlecht für das Geschäft mit der Krankheit. Patienten bräuchten die doppelte Anzahl Diagnosen. Meine Diagnose wusste ich zum Zeitpunkt des Querliegens noch nicht. Sie fühlte sich einfach und leicht an. Ich lag also da und spürte diese zarten runden Hände auf meinem Kopf. Seltsamerweise waren meine Beine eingebettet und fielen nirgends runter, wie es eigentlich der Fall sein müsste beim Querliegen. Auch mein Kopf fiel nicht hinunter. Ich kenne das Gefühl vom Kopf, der über den Matratzenrand hinaushängt. Die Gurgel richtet sich bei jedem Schlucken spitzig gegen die Decke auf, das Blut fliesst langsam Richtung Stirn, um die Augen herum bilden sich kleine Airbags. Mein Kopf lag aber flach und weich und ich fühlte mich wohl und ich wollte, wie gesagt, auf keinen Fall aus diesem Traum erwachen, dennoch war meine Neugierde zu gross. Wo waren meine Beine? Ich öffnete zaghaft ein Auge, nur ganz kurz, um die Hände nicht zu vertreiben.

Ich hatte nicht damit gerechnet, ein Gesicht über meinem Gesicht wiederzufinden. Ein bärtiges. Ich schrie. Das Gesicht schrie auch. Eine Hand verharrte auf meiner Stirn, die andere drückte die Klingel, die über meinem Bauch baumelte. Dann kam eine schwarze Welle und spülte mich in die Tiefe.

Sarah King, 13. Februar 2012 


Krankenpflege

Gregor fühlte zunächst nicht mehr als eine feuchte Wärme auf der Stirn. Das heisst, Wärme und Feuchtigkeit schienen ihn vollkommen einzuhüllen, und er hatte Mühe die Bewegung zu lokalisieren, ein sanftes Tupfen, das irgendwo stattfinden musste. Seine Stirn wurde klar und kühl, gleichzeitig glaubte er, Wasser zu hören, das in eine Schale tropfte. Mit vorsichtigem Druck kam der Stoff zurück, einmal, zweimal. Gregor hatte die Augen geschlossen, aber nun wusste er, dass er quer lag, quer über das Bett gestreckt. Die Daunendecke umgab ihn wie ein Wattebausch und hielt den Schlafanzug warm trotz der Feuchtigkeit, die das Fieber aus allen Poren getrieben hatte. Nur sein Kopf schaute heraus, seitlich zum Zimmer hin musste es sein, und nahe an seinem rechten Ohr plätscherte wieder das Wasser, während seine Stirn angenehm kühl wurde. Träumte er vielleicht noch? Einen dieser Träume, die sich wie Spiegel im Spiegel fortsetzen und in denen wir uns schlafend oder träumend erleben? Wie sollte es anders sein, woher sonst diese Hände? Denn Hände waren es, die sich jetzt auf seine Stirn legten, kleine runde Hände mit einer weichen Haut, die unmöglich zu Einstein gehören konnten, obwohl er sie  pfleglich behandelte. Jetzt war es noch eine Hand, sie strich ihm langsam über die Stirn, und ja, zärtlich. Er war versucht, die Augen zu öffnen, doch würde er dann nicht die Hände verlieren? Alines Hände? Er wusste ja, wie sie waren, hatte sie geschrieben, wieder und wieder, hatte geschrieben, während er ihren warmen Druck fühlte, und jetzt fühlte er sie ganz ohne zu schreiben. Er lag quer im Bett, sicher, dass er träumte, und dass er nicht mehr aufhören wollte zu träumen.    

Stephan Schoenholtz, 6. Februar 2012


Alles Gute zum Geburtstag

Es mag seltsam anmuten, einen Familienroman mit einer Geburt zu beginnen, zumal eine Geburt, vom Geborenen selbst wiedergegeben, nur die Erinnerung einer der Umstände wegen verzerrten Erinnerung einer anderen Person sein kann. Ein schwerfälliger Einstieg vielleicht. Wie die Geburt selbst, wobei da schwerfällig eine Beschönigung ist. Sie war ein Gemurkse: chaotisch, verbissen, laut, anstrengend. Und sie verkörperte in allen Facetten das Wort, das auf unserem Familienwappen steht: Macht.

Ich lag quer und ausgestreckt. Andere sind schön eingerollt, bereit, sich Kopf voran ins Leben zu stürzen. Ich aber nutzte den ganzen Raum und streckte mich, 58 Zentimeter, ein mächtiges Baby, horizontal. „So, jetzt aber Kaiserschnitt!“, sagte der Arzt, „Das Kind hat sich quasi in Ihrer Plazenta festgebissen und tut keinen Wank. Es wird Sie in Stücke reissen!“ Die Ungeduld in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Auf keinen Fall!“, erwiderte Kleopatra und aus Wut spuckte sie dem Doktor vor die Füsse. Das Wortgefecht entwickelte sich zum Handgemenge. Der Schweiss rann Kleopatra in Bächen über das Gesicht, ebenso dem Arzt. Die Hebammen, zunehmend machtlos, legten vorsorglich Infusionen in Griffnähe. Eine Bluttransfusion wurde in die Wege geleitet. Da lag ich also, ausgestreckt und eingequetscht, quer im Mutterkuchen, ein bisschen steif, und verweigerte jedes Entgegenkommen. Ich tat, als ginge mich das Ganze nichts an.

Einstein sass derweilen mit roter Krawatte im Schwesternbüro, tat auch, als ginge ihn das Ganze nichts an und trank gelassen einen Cognac. Nach etlichen Stunden und Gläsern stellte er die Flasche zur Seite und trat in den Gebärsaal. Alle hielten in ihren Bewegungen inne und wurden still. Schweigend und gemächlich bahnte er sich einen Weg durch Infusionsständer, Waschbecken, Gummibälle, schob den Arzt und die Hebammen sanft zur Seite, trat zu Kleopatra, die zwischen Ohnmacht und Schmerzensschreien hin- und herpendelte, hielt den Kopf zwischen ihre Beine, Vatermund zu Muttermund, schloss die Augen für einen kurzen Moment, als müsse er sich zuerst seine Worte zurechtlegen, und sprach schliesslich laut und klar: „Gregor, es reicht. Komm raus. Ich will nach Hause!“

So einfach war es. Da kam einer, sprach mich direkt an, sagte, was er wollte, und bemächtigte mich damit einer Entscheidung: Ein Dreiviertel-Salto und schwuppdiwupp hechtete ich vorlings direkt in seine Arme. Einstein betrachtete mich prüfend. „Ja. Das passt. Alles Gute zum Geburtstag.“

Sarah King, 28.01.2012    


Im Wald

Gregor hatte sich gegen Einsteins klappriges Fahrrad und für den Fussweg entschieden, obwohl es dämmerte. Die Bäume und das Unterholz verschluckten beinahe alles Licht. Er ging zwischen ihnen wie auf dem Grund des Sees, spürte den Weg mehr unter seinen Füssen, als er ihn sah. Stattdessen hatte er das Bild von Kleopatra auf der Treppe vor sich, in sich versunken und doch aufmerksam. Er hatte nie gedacht, sie könne dort auf jemanden oder etwas warten. „Auf etwas, das nicht eintrifft.“ Leicht dahingesagt hatte der Satz etwas Trauriges an sich. Nichts würde sich verändern, kein unvorhergesehene Ereignis würde eintreten, keine überraschende Begegnung stattfinden. Er stellte sich vor, wie sie ihn anschaute mit ihren hellgrauen Augen, ihm zuzwinkerte, als seien sie Komplizen im Wissen um die Vergeblichkeit allen Wartens auf die grosse Wende im Leben. Gregor spürte seinen Unwillen, ihren Blick mit einem zustimmenden Lächeln zu erwidern. Es mochte so aussehen, als folgten seine Tage einem immer gleichen Muster. Dem Wechsel aus kollegialem Miteinander in der Werkstatt und Rückzug in die eigenen vier Wände, vom Schneiden, Schleifen und Löten im Tageslicht hinter staubigen Scheiben zum Schreiben unter der Stehlampe im dunklen Wohnzimmer. Aber Gregor hatte ein Projekt. Er hatte es Einstein nicht gesagt: bei der neuen Geschichte, über die im Dorf gemunkelt wurde, handelte es sich um einen Roman, einen Familienroman. Seine bisherigen Erzählungen waren nicht mehr als Übungen gewesen, kleine Schritte auf dem Weg zu diesem umfassenden Wurf, der ihm schon lange vorschwebte und der sein Leben verändern würde. Gregor beschleunigte seinen Schritt, als wolle er Kleopatras Lächeln abschütteln, ihre heitere Gewissheit, auch ein Roman werde das Ruder nicht herumreissen, stattdessen versinken im gleichmässigen Dahinfliessen seines schmalen Lebensstroms. Dann fiel die Dunkelheit des Waldes plötzlich von ihm ab, das Dorf lag vor ihm, seine wenigen Lichter und darüber der sternklare Himmel. Im Haus streifte Gregor die Schuhe ab, ging ins Wohnzimmer, setzte sich unter die Bogenlampe und schrieb auf ein frisches Blatt Papier die Überschrift zu einem neuen Kapitel: „Schwuppdiwupp. Eine Kindheitserinnerung.“

Stephan Schoenholtz, 22.1.2012   


Runden drehen

„Still hier.“

Gregor schreckte hoch. Er musste eingenickt sein. Einstein stand mit roter Fliege und grünen Gummistiefeln vor ihm. „Darf ich mich zu Dir setzen?“ Gregor rutschte ein wenig zur Seite. Sie sassen da und schauten auf die Fische, die in einem weissen Kübel Runden drehten.

„Ich sah Dich schon hier sitzen, bevor ich rausging.“ Gregor nickte. „Ja. Ich warte.“

Einstein lehnte sich zurück. „Im Dorf munkelt man, Du seiest an einer neuen Geschichte und ich komme darin vor. Welche Rolle schreibst Du mir diesmal zu?“

Gregor lachte. „Ich konnte mich noch nicht festlegen. Du bist etwas zwischen einem wildgewordenen Irren, einem sanften Wesen und einem Phantom. Und wohl so etwas wie Alines Beschützer. Ich stelle mir vor, dass sie mit Dir hier in diesem Haus lebt.“ Einstein streifte sich die Gummistiefel von den Füssen. „Ist sie es, auf die Du wartest?“ Gregor zuckte mit den Schultern. „Wieso sollte ich hier auf sie warten? Sie existiert ja nur in meiner Geschichte.“ Er blickte auf die Fische im Kübel. Ihm schien, dass sie immer langsamer wurden. Vielleicht war ihnen schwindlig. Oder sie merkten, dass sie sich immer im Kreis drehten. Er verspürte den Wunsch, mit dem Kübel auf den Steg zu rennen und die Fische in einem Schwall in den See zu giessen. Wie früher. Er gleich hinterher, die Algen spüren am Bauch und zwischen den Beinen, nichts sehen, weil das Wasser so trüb ist, immer tiefer tauchen, bis er mit den Fingern den sumpfigen Grund berühren kann, zwischendurch auftauchen, Luft holen, wieder runter, zappeln, um alle Fische zu verscheuchen, so lange, bis er friert und er Kleopatras Rufe hört.

„Sie sass auch oft hier“, holte ihn Einstein aus den Gedanken, „Kleopatra. Sie wartete auf dieser Treppe. Wenn ich mich zu ihr setzte und fragte, worauf sie wartet, lächelte sie mich nur verschmitzt an und meinte: Auf etwas, das nicht eintrifft. Ich habe nie verstanden, was sie damit meint, ich glaube, sie verstand es selbst nicht. Es war uns auch nicht wichtig. Hauptsache, wir konnten dann ein bisschen hier sitzen und warten.

Nur einmal – da warst Du noch klein – da wartete sie tatsächlich auf etwas, auf ein Meerschwein, Schwupsi, oder wie es geheissen hatte. Sie sagte, sie müsse jetzt hier sitzen bleiben, für den Fall, dass das entflohene Tier wieder zurückkehrt. Von Sonnenaufgang bis zum späten Abend sass sie da, weigerte sich zu essen oder zu trinken. Zwischendurch setzte ich mich neben sie. Das Meerschwein blieb verschwunden. Soo, sagte sie dann plötzlich, stand auf und ging ins Haus.“

Gregor blickte seinen Vater erstaunt an. „Sie hat tatsächlich einen ganzen Tag hier gewartet?“ Einstein nickte. „Obwohl wir nie ein Meerschwein hatten.“

Die Sonne stand tief, es war immer noch windstill. Die Fische drehten langsam ihre Runden.

Sarah King, 14.1.2012


Aufbrechen

Er hat alles stehen und liegen lassen und ist aus dem Büro, durch die Stadt, geradewegs zu Aline. Heute wie damals.

Damals hatten Steffen und er den Laden noch nicht lange und sie verloren einen guten Kunden, der vergeblich auf Rückruf wartete. Gregor hatte alle Geräte laufen lassen, auch den Bildschirm, auf dem Einsteins Gesicht zu entstehen begann. Sein anfänglicher Schwung und seine Neugier waren so plötzlich gegangen, wie sie gekommen waren. Was war Einstein für ihn anderes als ein Geist, einem Graphikprogramm entsprungen? Auf der Strasse empfing ihn der Wind, als wolle er sich ihm mit allen Mitteln entgegenstellen. Gregor musste die Augen zusammenkneifen, sah kaum, wo er ging. Er spürte nur den Wind und die Erinnerung daran, wie Aline seine Hand gehalten hatte auf ihrem Spaziergang. Als er zum See kam, fing das Haus den Wind ab. Aline war da, sie schloss die Tür hinter ihm, und sie küssten sich zum ersten Mal. Der Wind rüttelte an den Fensterläden, aber sonst war es still in der Wohnung, still und kühl. Später sassen sie gemeinsam am Feuer.  Niemand spielte Klavier, und das Haus war ganz und gar nicht verwunschen.

Heute ist es windstill. Gregor steht vor der Wohnungstür. Nichts regt sich. Er setzt sich auf eine Treppenstufe und wartet.

Stephan Schoenholtz, 7.1.2012      

 

 aktuelles hin und her

texte 2011

chronologisch absteigend 

Der Schatten

Etwas stimmte nicht. Der Mann blieb stehen und betrachtete seinen Schatten am Boden. Hob er die Arme, tat es ihm der Schatten gleich. Langsam setzte der Mann einen Fuss vor den anderen, der Schatten wich ihm nicht von der Seite. Plötzlich wechselte er die Seite. Der Schatten. Der Mann hielt inne, irritiert, setzte sich auf den Boden. Wartete. Mitten in der Fussgängerzone. Menschen gingen rechts und links an ihm vorbei. Er sass da und liess sein graues Abbild nicht aus den Augen. Aus einer Laune heraus legte sich der Schatten hin, einfach so, quer über den Bürgersteig, ein Bein über das andere, die Arme verschränkt hinter dem Kopf.

Vorsichtig erhob sich der Mann. Der Schatten blieb liegen. "Komm schon. Steh auf. Du musst mir folgen." Der Schatten rührte sich nicht. Unauffällig schaute der Mann um sich herum. Niemand schenkte ihm Beachtung. "Ich zähle jetzt bis drei, dann gehe ich", drohte der Mann leise. Nichts. Der Schatten blieb, wo er war. "Eins, zwei, drei. Drei. Drei!" Der Schatten drehte sich auf die Seite, den Kopf auf dem angewinkelten Arm abgestützt. Spöttisch? "Hey!", der Mann trennte sich von seiner Fassung, "Steh endlich auf. Ich muss weiter!" 

Er war ratlos. "Warum tust Du das? Ich bin in Eile." Der Schatten tippte sich schweigend mit dem Finger an die Stirn. Und empörte damit den Mann. "Du lässt mich hier stehen und machst Dich lustig über mich? Das darf ja nicht wahr sein!" So ganz ohne Fassung hallte seine Stimme ungebremst durch die Strasse. War das ein Schrei? Passanten warfen ihm seltsame Blicke zu. Kurzerhand packte der Mann eine junge Frau am Arm, hielt sie fest. Fast verzweifelt. "Bitte – helfen Sie mir kurz." Die Frau schüttelte seine Hand von ihrem Arm, blieb stehen. Er räusperte sich. "Was sehen sie da vor mir am Boden?" Die Frau trat einen Schritt nach vorn, beugte sich vornüber. "Nichts. Nur Ihren Schatten." - "Ja, und welche Position hat mein Schatten?" - "Er liegt. Quer. Warum?" - "Warum? Er liegt. Er liegt! Sehe ich aus, als würde ich liegen?" Erschrocken ob seinem Ausbruch trat die Frau einen Schritt zurück. "Nein. Sie stehen." - "Ja, und?" Finden Sie das etwa normal?" Die Frau zuckte die Schultern. "Ich verstehe nicht, was Sie meinen." - "Er liegt", stöhnte der Mann, "ich stehe. Ich muss weiter, er will nicht mit. Er versperrt mir den Weg."

Die Frau dachte nach, umrundete den Schatten, stellte ihre Tasche mit den Einkäufen neben sich auf den Boden, holte Anlauf und sprang. Über den Schatten. "Es geht. Versuchen Sie es. Ist ziemlich flach." Unschlüssig stand der Mann vor seinem Schatten und überlegte. Als er ein Bein zaghaft über den Schatten hielt, packte ihn dieser am Knöchel. Der Mann schrie auf. "Lass mich los!" Er setzte sich vor seinen Schatten auf den Boden und schloss die Augen. "Was ist denn jetzt los?", fragte die Frau. "Psst. Ich denke." - "Nicht denken sollen Sie. Springen. Kommen Sie schon!" Die Frau streckte ihm von der anderen Seite des Schattens die Hand entgegen. "Wie Sie meinen." Tief atmete er ein und wieder aus und wieder ein, nahm Anlauf, sprang, weit, lange, über den Schatten. Ein bisschen wie fliegen. Erstaunt drehte er sich um. Der Schatten lag noch auf derselben Stelle, unbewegt, etwas gelangweilt. Der Mann dankte der Frau. Oder dem Schatten. Oder beiden, und ging davon.

Sarah King, 6. August 2011

 

Der Traum des Springers

Er beugt das Knie und setzt die Fingerkuppen in den roten Sand. Der erste Lauf an diesem Morgen, die Bahn noch unberührt. Er muss sie nicht sehen. Sein Körper weiss, wie sie sich anfühlt. Jeder Meter, jede Hürde ist ihm vertraut.

Der Vogel hat ganz plötzlich begonnen. Er hat ihn nie gehört, nicht hier. Da sitzt er, auf der ersten Hürde in der Morgensonne. Als sei sie ein Ast. Ein Dachfirst. Oder ein Tor, das erste von vielen Toren. Auf allen Vieren könnte er durch sie hindurch krabbeln wie durch einen langen Gang, und der Vogel würde über ihm singen.  

Er senkt den Blick. Ich bin ein Springer. Über die Hürden geht es, 100 Meter lang, mit gestreckten Beinen, beinahe wie im Flug.

Der Vogel flattert auf und ist verschwunden. Die Bahn liegt vor ihm. Er könnte ganz gemächlich gehen, ohne Hast die erste Hürde übersteigen, weiter bis zur nächsten gehen. Sich auf sie schwingen wie auf einen Gartenzaun. Lauter Gärten könnte er durchqueren, barfuss durch das feuchte Gras.    

Ich bin ein Springer. Wenn der Schuss fällt, fliege ich wie ein Pfeil von der Bogensehne  und weiss fast nicht, wie mir geschieht.

Wenn es keine Hürden gäbe, könnte er die Bahn herunter schlendern, die Hände tief in seinen Hosentaschen. Im warmen Sand würde er Fussabdrücke hinterlassen. Ein leichter Wind wehte um seine Schläfen, ein Wind vom Meer.   

Jetzt liegt er. Die Sonne scheint ihm durch die Augenlider. Ein Schuss fällt. Der Springer lächelt.   

Stephan Schoenholtz, 12. August 2011

 

Der Vogel

Sie könnte ganz gemächlich gehen, ohne Hast, durch das erste Tor, weiter bis zum nächsten. Sich auf den Tisch der Gepäckkontrolle schwingen, nackt ausziehen und rufen: Ja, das bin ich. Ich. Niemand sonst. Da ist nichts in mir, nichts an mir, nichts, das ich aus diesem Land in das nächste bringen will. Nicht im Traum denke ich daran. Sie könnte ruhig vom Tisch steigen, alles zurück und hinter sich lassen, durch den Scanner gehen, durch die Passkontrolle, durch die Dutyfree-Zone, durch das Gate, in den Flieger, in die Höhe, durch den Himmel, in das andere Land.

Ja, ich reise alleine, nein, ich brauche nicht mehr Gepäck, ja, ich war eine Woche da, nein, ich kämpfe nicht, nein, ich bin nicht gefährlich, nein, ich bin keine Spionin, ja, ich bin schon gereist, ja, ich kenne die Regeln, nein, ich habe nicht mehr Stempel im Pass.

Ich weiss nicht warum.

Sie darf gehen, entfernt sich einen Schritt, noch einen, vorsichtig, schwitzt, tastet mit ihrer Hand unauffällig nach der Stelle, wo sonst ihre Tasche hängt. Links eine Uniformierte, hält sie am Arm, bohrt die Finger in das Fleisch des Oberarms, auch unauffällig, geht mit.

Sie zählt die Schritte, fühlt sich leicht mit jedem, der sie näher zum anderen Land bringt. Freier. Ruhiger.

Die Hand, immer noch da, wo die Tasche war, zittert leicht. Sie hört ein Geräusch hinter sich, wendet reflexartig den Kopf. Zu schnell. Die Hand sinkt.

Jetzt liegt sie da. Das Licht der Neonröhren flackert. Sie hört, wie ihr Name aufgerufen wird. Einmal. Noch einmal. Und einen Flieger irgendwo über der Startbahn. Da muss sie an einen Vogel denken. Sie lächelt.

Sarah King, 15. August 2011

 

Am See

„Lass uns nackt baden.“

„Auf keinen Fall.“

„Es schaut sowieso niemand.“

„Ich fühle mich nicht wohl dabei.“

„Warum nicht? Du siehst umwerfend aus.“

„Es schaut ja niemand.“

„Eben. Aber falls dich zufällig jemand sieht …“

„Ich möchte anderen Menschen nicht nackt begegnen. Das ist alles.“

„Du schämst dich.“

„Nein. Ich finde das - künstlich.“

„Es ist doch natürlich. Unverstellt halt, ohne Verkleidung.“

„Vielleicht verkleide ich mich gern. Du magst das ja auch.“  

„Ja. Aber ohne Kleider - “

„Ohne Kleider sind wir alle gleich.“

„Wo ist dann das Problem?“

„Ich weiss nicht.“

„Man sieht nur, wer wir sind.“

„Erinnerst du dich, als wir das erste Mal ausgegangen sind?“

„Natürlich.“

„Ich sehe dich noch vor mir. Den schiefen Knoten in deinem Schal. Die kaputten Schuhe. Das bist du. Für mich.“

Stephan Schoenholtz, 31. August 2011

 

Unverhüllt

"Lass uns nackt baden. Das vertreibt vielleicht die Langeweile zwischen uns."

"Auf keinen Fall. Ich will die Langeweile zwischen uns nicht vertreiben, sondern lieber ein wenig flirten mit den Männern dort drüben."

"Es schaut sowieso niemand. Vielleicht solltest Du laut hinüber rufen."

"Ich fühle mich nicht wohl dabei. Laut rufen ist nicht so mein Ding. Soll ich direkt rüber gehen?"

"Warum nicht? Du siehst umwerfend aus. So dachte ich jedenfalls, bevor mich die Langeweile blind für Dich machte. Willst Du, dass ich mit einem Handzeichen auf Dich aufmerksam mache? Dann musst Du nicht aufstehen."

"Es schaut ja niemand. Dein Rumfuchteln macht höchstens auf Dich aufmerksam. Mich sehen sie dann nicht mehr."

"Eben. Aber falls Dich zufällig jemand sieht ... Du könntest ja mitfuchteln. Das weckt mehr Aufmerksamkeit. Oder findest Du das entblössend, wenn wir beide aus lauter Langeweile rumfuchteln?"

"Das enthüllt unsere Unbeholfenheit. Ich möchte anderen Menschen nicht nackt begegnen. Das ist alles."

"Du schämst Dich, weil wir unsere Langeweile nackt zur Schau stellen?"

"Nein. Ich finde das – künstlich. Dieses Rumfuchteln, nur damit sie schauen."

"Es ist doch natürlich. Unverstellt halt, ohne Verkleidung. Wir legen die Masken ab und stehen dazu, dass wir froh sind, einander loszuwerden."

"Vielleicht verkleide ich mich gern. Du magst das ja auch, wenn nicht alle auf Anhieb wissen, was wirklich in Dir vorgeht."

"Ja. Aber ohne Kleider habe ich schneller Ruhe von Dir."

"Ohne Kleider sind wir alle gleich. Die Männer da drüben sind sicher auch gelangweilt und versuchen es irgendwie zu verschleiern."

"Wo ist dann das Problem? Dann können wir doch gedankenlos rumfuchteln."

"Ich weiss nicht."

"Erlaube mir, an Deiner Stelle zu antworten: Man sieht nur, wer wir sind. Aber nicht wer wir gerne sein möchten. Stimmts?"

"Erinnerst Du Dich, als wir das erste Mal ausgegangen sind? War nicht auch Dein erster Gedanke, dass wir uns bald gegenseitig langweilen werden?"

"Natürlich. Obwohl – meine Hormone waren damals derart durcheinander – ich weiss nicht mehr, was ich eigentlich vor mir sah." 

"Ich sehe Dich noch vor mir. Den schiefen Knoten in Deinem Schal. Die kaputten Schuhe. ‚Der sieht aber verlottert aus’, schoss mir durch den Kopf. Dann versuchte ich mir einzureden, dass es auf die inneren Werte ankommt und so blabla. Aber ich sehe es immer noch, das Verlotterte. Das bist Du für mich."

"Du bist mir ja eine."

"Du bist mir auch einer."

"Und jetzt? Nackt baden?"

"Ja. Können wir machen. Ich klingle der Schwester, damit sie den Badelift holt."

Sarah King, 4. September 2011

 

Es muss ja nicht jeder wissen

Ich habe mich wieder auf das Sofa gesetzt. Die Stehlampe beleuchtet den niedrigen Tisch mit unseren zwei Gläsern und den Flaschen, die ich vom Schrank genommen hatte. Finnischer Wodka, ein 17 Jahre alter Whiskey, Rum, Portwein, Orangensaft. In jeder Flasche ein anderer Pegelstand, nur unsere Gläser sind leer. Ich sollte sie in die Spülmaschine räumen, die Flaschen zurückstellen, schlafen gehen. Stattdessen bleibe ich sitzen, Hände und Knie im Lichtkegel, der Oberkörper im Schatten. „Es muss ja nicht jeder wissen, was wirklich in Dir vorgeht.“

Es ist ganz still im Zimmer, dem Wohnzimmer, das ich tagsüber kaum betrete, wo abends der Fernseher läuft. Manchmal telefoniere ich nach der Arbeit, auch auf dem Sofa, im Schatten ausserhalb des Lichtkegels. Einmal im Monat hole ich die Flaschen herunter und zwei einfache Gläser aus dem Schrank, dann sitzt Frank auf dem Sessel gegenüber. Wir brauchen eine Weile, bis wir zu sprechen beginnen, deswegen geht Frank selten vor Morgengrauen. Anfangs habe ich ihm mein Gästezimmer angeboten, er wohnt ja nicht gerade um die Ecke. Er sagte, er liebe es, am frühen Morgen durch die leeren Strassen nachhause zu laufen und dabei über unsere Gespräche nachzudenken. Vielleicht überquert er gerade eine Hauptstrasse, gemächlichen Schrittes, ohne sich nach einem Auto umsehen zu müssen, während ich zusehe, wie das Licht auf meinen Händen schwächer wird und der Himmel in den Fenstern auftaucht. Es wäre gut, sich einmal bei Frank zu treffen. Von seinem Sofa aufzustehen und durch die Dämmerung nachhause zu gehen. Aber Frank ist verheiratet, in seinem Wohnzimmer könnten wir nicht sprechen, wie wir es hier tun. Über das, was wirklich in uns vorgeht. Wenn das Wochenende kommt, und wenn es sonntags wieder dämmrig wird. Während ich morgens das Auto parke, gerade neben der Baustelle, und während ich mir abends die Schuhe ausziehe. Wenn Frank in der Badewanne liegt und das Wasser langsam lauwarm wird. Während er mit seiner Frau Sex hat, und wenn sie spazieren gehen. Wenn ich spät noch einen Spaziergang mache, weil ich sonst nicht einschlafen kann. Manchmal denke ich, dass alles verkehrt ist. Verkehrt herum. Wenn das, was wir einander sagen, die Wirklichkeit ist, was macht sie hier, nachts, in meinem Wohnzimmer? Was für eine Wirklichkeit ist das, die kein Mensch sieht und von der niemand weiss?

Ich stelle die Flaschen zurück auf den Schrank, die Gläser in die Spüle. Warum nicht gleich in die Spülmaschine? Ich denke an die Worte meiner Freundin und muss lächeln. Wie lange habe ich sie nicht mehr gehört. Vor Jahren zuletzt. Lange, bevor Frank zu mir kam, damit wir über das sprechen, was nicht jeder wissen muss.

Stephan Schoenholtz, 11. September 2011

 

Verkehrt herum

Als der Wecker klingelt, legt er sich hin, streckt sich, schmiegt die Füsse gemütlich ins Kopfkissen.

Im Westen geht die Sonne auf, Stille auf den Strassen vor dem Haus.

Ein Traum reisst ihn in die Tiefe, unterhält ihn, entlässt ihn in einen Dämmerzustand, wie der Tag die Stadt, die grau und grauer wird. Schatten an der Wand.

Widerwillig schwingt er die Beine aus dem Bett, schlurft ins Bad, nimmt zwei Eier aus dem Schrank, stellt sie zum Verzehr vor den Spiegel, setzt das Badewasser auf, rührt ein paar Löffeli Kaffeepulver rein, nimmt ein paar Schlucke, zu heiss, zieht den Stöpsel aus der Wanne, geht weiter in die Küche, legt sein Gesicht in die Spülmaschine, heute nur das Kurzprogramm. Oje, kein Klarspüler mehr. Das Zeichen blinkt.

Unklar tritt er vor die Tür, wartet auf den Bus, der langsam anrollt, kurz vor der Haltestelle beschleunigt, voll karacho an ihm vorbei.

So geht er zur Fuss durch die finsteren Strassen, die überfüllt sind. Abendhektik. Niemand nimmt niemanden wahr, die Gedanken schon halb bei der Arbeit. Die ersten Geschäfte öffnen ihre Türen.

Sein Atelier liegt gut. Im Inserat hatte gestanden: Morgen- und Abendmond. 

Er lächelt erfreut über das Schnäppchen von damals. Heute keine Treppe. Er steigt in den Aufzug, drückt auf den erstbesten Knopf, ein Ruck, der Aufzug setzt sich in Bewegung, steigt, steigt, steigt, hält. Die Türen gehen automatisch auf.

Er setzt einen Fuss nach dem anderen auf. Schaut vorsichtig über den Rand in die Tiefe, macht einen kleinen Schritt zurück, während sie dort unten Sprünge machen.

Er setzt sich in einen Krater und denkt darüber nach, wie er die Zeit rumbringt bis zum Morgengrauen. Und vor allem: Wie kommt er da wieder weg? Überstunden.

Sarah King, 13. September 2011


Fussweg

Unklar tritt er vor die Tür. Keine fünfzehn Minuten sind es zum Büro, ein Vorzug der neuen Wohnung. Er muss sich nicht einmal beeilen. Fünfzehn Minuten nur, um sich zu ordnen. Er hört seine klaren Schritte. Alleine aufzuwachen, darauf hatte er sich gefreut. In aller Stille seine Mahlzeiten einzunehmen. Von allem nur noch eines zu haben: ein paar Schuhe im Flur, ein Handy auf dem Beistelltisch, ein Handtuch neben dem Waschbecken, eine Zahnbürste in einem sauberen Glas. Unklar bleibt er stehen. Er sieht sich in der Scheibe eines parkenden Autos: das Jackett, die Brille, die Haare. Ein jedes an seinem Platz. „Alles klar?“ wird sein Kollege fragen. „Alles in Ordnung.“ wird er antworten und sich an den Schreibtisch setzen. Ob er sich doch ein Auto kaufen sollte? Fusswege bringen ihn immer aus der Fassung. Unklar geht er weiter.

Stephan Schoenholtz, 20. September 2011 


Luftlinie

Sie zählt die Schritte von der Tür bis zum Tisch. Sieben. Und noch einen zusätzlichen, um zu ihrem Stuhl zu gelangen.

Er brauchte vier Schritte mehr, um sich an seinen gewohnten Platz am Küchentisch zu setzen. Alle seine Wege ist sie gegangen. Hat seine Schritte mit ihren eigenen verrechnet. Er ging viel weiter als sie. Zu weit?

Am letzten Tag sass er am Küchentisch über einer Stadtkarte, Massstab 1 zu 25'000. Mit Lineal und Bleistift zeichnete er einen geraden Strich quer über die Karte. Für den direktesten Weg von ihrer gemeinsamen in seine neue Wohnung. Luftlinie.

Er stand auf, verstaute die Karte in seiner Sporttasche, kam einen Schritt näher. Noch ein Schritt, bis sich ihre Fussspitzen berührten. Er beugte sich vor. Sein Gesicht verschwand aus ihrem Blickfeld und hielt neben ihrem Ohr inne. „Was war nochmals der Grund, warum wir das tun?“ Ihr fielen nur zusammenhangslose Gedanken ein. Keine einzelnen Sätze. Sie schwieg. „Also dann“, sagte er. Also dann, dachte sie.

„Deine Zahnbürste!“ Er stand schon im Treppenhaus, machte Kehrt, ging noch einmal den Weg ins Bad und zurück. Zweiundzwanzig Schritte. Er verliess das Haus mit der Zahnbürste in der Hand.

Sarah King, 25. September 2011


Zwischenraum

Jetzt ist es so: da sind drei Orte. Da ist die Wohnung, aus der er kommt, wo er alles mit ihr geteilt hat, Tag für Tag. Da ist das Büro, in das er geht, wo er mit vielen Menschen spricht,  Tag für Tag. Und da ist die Wohnung, in der er schlafen geht, wo er mit sich alleine ist,  Nacht für Nacht. Sie liegt dazwischen, gerade in der Mitte. Er liegt in seinem neuen Bett und wartet auf den Schlaf.

Stephan Schoenholtz, 30. September 2011


Metasprachliches

Lieber Stephan, mal anders. Der Protagonist fordert mich heraus. Alle netten Fantasien zu Zwischenräumen oder zu neuen Betten werden überlagert von dem Gedanken, dass der Mann in Deinem Text, abgesehen davon, dass er in der Monotonie des Alltags unterzugehen droht, nicht schlafen kann, und mir von Schafe zählen, Sport, Wein, Yoga, Waldspaziergängen bis hin zu Schlafpillen unaufhörlich Entspannungs-Tipps durch den Kopf jagen. Dann denke ich: Lass das bleiben, seine Schlaflosigkeit existiert nur in Buchstaben, was aber nichts nützt, sondern im Gegenteil dazu führt, dass ich plötzlich gepanzerte Zwischenräume vor Augen habe, obwohl in Deinem Text (ausser im Titel) nie die Rede von Zwischenräumen ist, und schon gar nicht von gepanzerten. Fragen drängen sich auf: Warum der Mann passiv an drei Orten verharrt, wie er überhaupt auf die Idee kommt, dass sie in der Mitte liegt, wenn sich doch die Mitte, je nach Blickwinkel, verschieben lässt, warum er sich nicht nebst des neuen Bettes noch eine neue Zahnbürste kaufte, statt umzudrehen und zusätzliche Schritte zu machen. Die Luftlinie war ihm doch wichtig. Und mir scheint, jetzt könnte sie, die da im vorletzten Text so stumm vor ihm stand, auch antworten auf seine Frage: Was war nochmals der Grund, warum wir das tun?

Sarah King, 5. Oktober 2011


Die Unsicherheit des Papiertigers

Es klang wie eine Herausforderung. Nein, eine Anklage. War es möglich, dass seine Email eine derart heftige Reaktion provoziert hatte, dieser harmlose Versuch, einen lange eingeschlafenen Kontakt wieder zu beleben? Im Gehen zog er den Schal zurecht. War er zu empfindlich? Möglicherweise ging es Sarah gerade nicht gut und ihre Irritation hatte nichts mit ihm zu tun. Er war sich nicht sicher. Jetzt erinnerte er sich, dass seine Unsicherheit sie immer schon gestört hatte. Seine Mühe, Entscheidungen zu fällen, seine vorsichtige Art sich auszudrücken. Aber war genau das nicht die Vergangenheit, die er hinter sich gelassen hatte? Hatte Sarah nicht die Person vor Augen, die er einmal gewesen war, damals, zu Kunsthochschulzeiten? 

Er beschleunigte seinen Schritt. Auf jede ihrer Fragen hatte er eine präzise Antwort parat.  Dass er nicht schlafen konnte, lag tatsächlich am neuen Bett, deswegen hatte er es überhaupt erwähnt, und sämtliche Entspannungs-Tipps würden daran nichts ändern, nur die allmähliche Gewöhnung. Er war ein Mann der liebgewonnenen Gewohnheiten und hätte das gemeinsame Bett mitgenommen, wäre es Aline gegenüber nicht unfair gewesen. So war es bei der Zahnbürste geblieben, und auch die hatte er zwischenzeitlich durch eine neue ersetzt, was Sarah nicht wissen konnte. Sie hätte sich aber denken können, wie sehr ihm das Gewohnte fehlte in diesen Tagen. Darum ging es. Nicht Monotonie. Jedenfalls existierte seine Schlaflosigkeit nicht nur in Buchstaben, das sähe sie auf den ersten Blick, würde sie ihn jetzt treffen. Ja, er hatte daran gedacht, dass sie sich wieder treffen könnten. Er hatte es mit keinem Wort erwähnt, lediglich von seinem Auszug bei Aline berichtet, aber er hatte daran gedacht. Jetzt war er sich nicht sicher, dass er sie überhaupt treffen wollte.

Er betrat das Bürogebäude. Wo Sarah Recht hatte – in der Mitte lag die neue Wohnung nicht, nicht einmal in der Stadtmitte. Er hatte sich die Freiheit genommen, von Mitte zu sprechen, weil es sich so anfühlte. Weil er wollte, dass es sich so anfühlte: in der Balance. Ihre Mail brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Beim Lesen hatte ihn das Gefühl beschlichen, gar nicht wirklich zu existieren, nichts weiter zu sein als die blasse Figur in einem Text. Er würde ihr antworten müssen, gleich heute. „Liebe Sarah, danke für deine Mail. Du stellst mir viele Fragen. Vielleicht erwartest du keine Antworten darauf, sie klingen eher wie Feststellungen. Deshalb möchte ich dir antworten. Und eine Sache klarstellen: ich bin kein Papiertiger.“  

Der Kollege sah ihn vorbeigehen. „Alles klar?“ „Alles in Ordnung.“ Er setzte sich an seinen Schreibtisch, startete den Computer. Lauter unwichtige Nachrichten. Bis auf eine. Aline hatte geschrieben: „Dass du diese Frage stellen konntest, bevor du gingst, und dass du wiederkommen konntest, um deine Zahnbürste zu holen, ohne ein Wort zu mir zu sagen – das beantwortet deine Frage am besten. Noch nie hat mich ein Mensch so traurig gemacht wie du.“

Stephan Schoenholtz, 13.Oktober 2011


Der Brotsack

Ehe sie sich’s versah, fand sie sich an einem Ort wieder, wo sie nicht sein wollte: mitten in der Geschichte, verwickelt in Fiktion, als neu erwachter Kontakt von einem Menschen, der klarstellt, kein Papiertiger zu sein. „Hey, mich kannst du gar nicht kennen, du konntest doch seit deiner Erfindung noch nie über den Papierrand hinausblicken“, wollte sie ihm auf seine Mail antworten, als sich Schiller unerwartet in ihre Gedanken schob und leise mahnte: Gefährlich ist’s den Leu zu wecken, verderblich ist des Tigers Zahn, jedoch der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn.

Huch, dachte sie, wie wahr. Also trat sie aus der Geschichte heraus, zog gemeinsam mit ihrem Schreibfreund eine dicke gelbe Linie um die Fantasiewelt, wo nun ein Warnschild steht: Zutritt für Autoren oder deren Namen untersagt.

Zurück in der Realität setzte sie sich an den Schreibtisch. Blickte statt aus dem Text heraus auf ihn hinunter. Auf die Frau, die Schritte zählte, und die mittlerweile zu einem Namen gekommen war.

Aline.

Von irgendwoher hörte sie ein Quietschen. Aline hielt inne. Sie schwitzte. Den ganzen Nachmittag hatte sie damit verbracht, Möbel umzustellen und Schränke auszumisten. Das Wohnzimmer war überstellt mit Kisten für den Sperrmüll. Nach ein paar Sekunden quietschte es wieder.

„Das Meerschwein!“  Rasch schob sie ein paar Kisten zur Seite und machte den Weg frei zum Käfig vor dem Fenster. Aline öffnete das Gittertörchen und blickte argwöhnisch auf das quietschede Tier. Sie konnte mit einem Meerschwein nichts anfangen. Gregor brachte es eines Abends nach Hause. „Eine Kindheitserinnerung“, lachte er, küsste sie und dann das Meerschwein. „Okay, aber nur im Arbeitszimmer“, sagte sie. Vier Tage später stand der Käfig im Wohnzimmer.

Sie hob das lebendige Wollknäuel aus dem Heu und betrachtete es von allen Seiten. Die Knopfaugen halb verdeckt von dicken braunen Haarzotteln. „Was mache ich denn nun mit dir?“ Das Meerschwein zitterte. Sie liess sich in den blauen Sessel sinken. Das Tier auf ihrem Bauch. Plötzlich wusste sie, was zu tun war.

In der Küche steckte sie das Meerschwein mit ein paar Salatblättern in den Brotsack, ging aus dem Haus, auf den Bus.

Vorsichtig legte sie den zappelnden Brotsack auf den Sitz neben sich. „Psst“, flüsterte sie dem aufgeregten Tier zu. Eine alte Frau sass ihr gegenüber und liess sie nicht aus den Augen. „Der Brotsack bewegt sich“, sagte sie nach einer Weile. Aline blickte aus dem Fenster und schwieg. Am Bahnhof stieg sie aus, ging mit dem zappelnden Brotsack in der Hand durch die Stadt.

Eine steile Strasse führte zum Fluss hinunter. „Wo gehst du hin?“, hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich. Sie drehte sich um. Marlies. Die Freundin umarmte sie. „So ein Zufall!“ – „Ja.“ Aline versuchte den Brotsack hinter ihrem Rücken zu verbergen. Marlies lud sie zu einem Kaffee ein. „Ich kann nicht. Ich geh an den Fluss.“ – „Was willst du um diese Uhrzeit am Fluss? Es ist dunkel.“ Aline zuckte die Schultern. „Ich begleite dich.“ Marlies hakte sich bei ihr unter. „Aber lass uns die Drahtseilbahn nehmen.“

Von der Sitzbank aus blickten sie auf den flackernden Bildschirm an der gegenüberliegenden Wand. Werbung. Marlies zeigte auf den Brotsack. „Er quietscht.“ – „Ich weiss.“

Die Bahn setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Marlies nahm ihr Iphone aus der Tasche und drückte darauf herum, bis Camilles Stimme erklang. „Weißt Du noch?“ Leise sang sie den Text. Aline summte mit. „Le sac des filles.“ Ihr Ferienlied.

Sie lehnte sich zurück und blickte wieder auf den Bildschirm. Humor diesmal. Sind sie alleine, junge Frau?, fragt ein Baum eine Bäumin. Das ist Moos!, ihre Antwort. Sprechende Bäume.

Marlies öffnete den Brotsack, nahm das Meerschwein heraus und streichelte es. Die Bahn hielt an. Die Türen öffneten sich. Noch immer das Lied. Sie blieben sitzen. Die Bahn setzte sich wieder in Bewegung.

„Wie Teenager“, lachte Marlies.

Hinter den Fenstern die Lichter der Stadt in der Dunkelheit.

Langsam stieg die Bahn den Berg wieder hoch. Nach 105 Metern hielt sie still. „Aussteigen, Madame“, Aline nahm das Meerschwein und steckte es wieder in den Brotsack, „das Lied ist zu Ende.“ – „Was machst du jetzt damit?“ Aline zuckte die Schultern. „Kaffee?“

Sarah King, 15. Oktober 2011


Schwuppdiwupp. Eine Kindheitserinnerung.

Das Meerschwein hiess Schwuppsi. Gregor hatte es so genannt, als es ihm beim ersten behutsamen Versuch, es in die Hände zu nehmen, mit einem leisen Quietschen davongehuscht war. Das war an seinem sechsten Geburtstag gewesen. Am nächsten Tag jedoch konnte er es streicheln und an sich drücken, ohne dass es den geringsten Fluchtversuch unternommen hätte. Gregor war erstaunt und auch ein klein wenig stolz. Er überlegte kurz, den Namen wieder zu ändern, liess es dann aber dabei. Bereits am folgenden Tag machte Schwuppsi seinem Namen wieder alle Ehre und liess sich beim besten Willen nicht berühren, nur um sich einen weiteren Tag später wieder nach Belieben Gregors Händen zu überlassen. So ging es hin und her. Gregor hatte längst alle Versuche aufgegeben, Schwuppsis merkwürdigen Rhythmus zu durchbrechen, als es ihm plötzlich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen gelang, das kleine Meerschwein nach dem Füttern sachte über den Rücken zu streicheln. Endlich schien Schwuppsis Vertrauen gewonnen, und nach einer zusätzlichen Testphase von einer Woche nahm er den kleinen Freund zum ersten Mal mit in den Garten. Es war ein sonniger Sommermorgen, an dem Gregor sich neben dem Käfig ins Gras hockte und das kleine Gittertürchen öffnete. Schwuppsi zögerte nicht eine Sekunde. Gregor sah das Meerschwein kaum, so schnell kam es durch die schmale Öffnung geschossen, um mit einem leisen Quietschen zwischen den Grashalmen unterzutauchen. Für immer.    

25 Jahre später stellte Gregor den Käfig mit dem frisch erworbenen Meerschwein auf den Boden seines Arbeitszimmers. Langsam krempelte er die Hemdsärmel hoch, atmete tief durch und streckte seine Hand dem kleinen Wollknäuel entgegen. Schwupps. Zweiter Tag. Schwupps. Auch der dritte Tag wollte keine Besserung bringen. Am vierten Tag stellte er den Käfig kommentarlos ins Wohnzimmer. Das Meerschwein bekam nie einen Namen.

Als Gregor 4 Jahre später auszog, würdigte er das kleine Tier keines Blickes. Auch nicht, als er die Zahnbürste holte. 

Stephan Schoenholtz, 24. Oktober 2011


Haus im Schlafrock

Wollte sie das Tier etwa im Fluss ertränken?, hast Du mich gefragt. Ich weiss es nicht, sagte ich. Ich weiss es wirklich nicht. Aline verriet ja nichts über ihr Vorhaben. Ich erfuhr nur, dass sie plötzlich wusste, was zu tun war. Der Brotsack, die Busfahrt, der Weg zum Fluss. Ja, vielleicht wollte sie es ertränken. Vielleicht wollte sie runter zum Zoo am Fluss und dort den kleinen Nager bei seinen Artgenossen aussetzen. Hoffentlich. Für die Geschichte. Ein ertränktes Meerschwein – so stelle ich mir vor – würde womöglich in eine Sackgasse führen. Ich könnte jetzt zu Marlies und Aline ins Kaffee zoomen und schauen, ob ich aus ihrer Unterhaltung etwas erfahre über Alines Absichten. Aber es interessiert mich nicht. Mich interessiert mehr, wer Aline eigentlich ist. So wie damals Gregor vor sechs Jahren.

Liebe Aline, was geht einem Kind durch den Kopf, wenn es morgens aufwacht und feststellt: „Das Haus ist leer.“? Wenn einfach nichts mehr da ist ausser dem eigenen Bett, in dem man liegt?

Ich recherchiere gerade für eine Geschichte, darum die Frage. Vor ein paar Wochen habe ich in der Zeitung den Kurzbericht über Dich gelesen. Dass es Dich noch gibt. Dass Du fünfundzwanzig Jahre älter geworden bist. Dass Du Dich heimlich selbst gross gezogen hast. Viel mehr stand da nicht. Ich möchte gerne wissen, wer Du bist. Ich fragte bei der Zeitung nach und erfuhr nichts Neues. Die Redaktorin erklärte sich jedoch bereit, diesen Brief an Dich weiterzuleiten. Können wir uns mal treffen und reden? Meine Anschrift findest Du auf dem Briefumschlag. Eine Email wäre mir lieber (greg@or.her), sofern Du einen PC hast. Solltest Du erzählen wollen, wärst Du immer die erste, die liest, was ich schreibe.

Ich stelle mir Dich immer noch in einem leeren Haus mit nichts als einem Bett vor.

Gregor

 

Aline legte den Brief zur Seite und schaute sich um. So falsch war Gregors Vorstellung nicht. Sie war im Haus und es war fast leer. Manchmal, wenn sie hinter dem Haus im Garten sass, hörte sie Kommentare von Spaziergängern. „Ein Geisterhaus“, „eine verwunschene Villa“. Das Haus stand allein auf einer kleinen Halbinsel. Hinter dem Haus die Stadt. Vor dem Haus der See. Der Hafen eigentlich. Die Schiffe hupten, wenn sie vorbeifuhren, und teilten Alines Leben in lauter Halbstundentakte. Wenn sie am Fenster stand, blickten die Passagiere zu ihr hin. Manche winkten, liessen die Hand aber wieder sinken, wenn Aline nicht reagierte.

Sieben Zimmer standen leer. Die Fensterläden liessen sich nicht mehr öffnen. Der Efeu hatte die Fassade in Besitz genommen, verdeckte mit seinen Sprossen jede nackte Mauerstelle. Ein Haus im grünen Schlafrock. Sie hatte die leeren Zimmer nicht mehr betreten seit dem Morgen damals.

Gregor

Was einem Kind durch den Kopf geht, wenn es am Morgen aufwacht und das Haus leer ist? Pochender Schmerz zuerst. (Vermutlich von den Schlafmitteln, die mir meine Eltern vorher verabreicht hatten. Was ich aber damals als 8-jährige noch nicht wusste.) Dann die Stille. Keine Schritte, keine Stimmen. Und das Gefühl, dass plötzlich alles ganz gross und ganz leer ist. Ich dachte, mein Atem würde widerhallen. Verwirrung beim Gang durch die Räume. Nichts war da, was mal da war. Nur der Kronleuchter hing noch im Salon und kalter abgestandener Rauch von Vaters Zigarren. Vielleicht schlafe ich noch, dachte ich. Ich kniff mich selbst. In den Oberarm, in den Oberschenkel, in den Bauch. Es tat weh, aber ich erwachte nicht. So legte ich mich nochmals hin, versuchte einzuschlafen, in der Hoffnung, danach richtig zu erwachen. Der Schlaf wollte nicht kommen. Die Müdigkeit fehlte. Ich ging in die leere Küche, in das leere Schlafzimmer meiner Eltern. Sie kommen wieder, dachte ich. Ich setzte mich im Pyjama auf die Treppe vor dem Haus und wartete. So, wie ich manchmal abends auf Vater wartete, bis er von der Arbeit nach Hause kam. Ich sass so lange auf der Treppe, bis ich wieder müde und die Sonne fast weg war, dann ging ich ins Haus, ins Bad. Nur meine Zahnbürste lag noch da. Sie war rot und hatte einen kleinen Aufdruck. Einen Pandabär. „Die Zähne wachsen Dir nie mehr nach“, hörte ich meine Mutter in meinen Gedanken.

Darum putzte ich sie so lange, bis es weh tat und ich ein bisschen Blut in der Spucke hatte. Jetzt bin ich sauber, dachte ich. Ich legte mich ins Bett. Unter die Decke und drückte die Panda-Zahnbürste an mich.

Ich wohne heute immer noch im selben Haus. Zwei der neun Zimmer habe ich mit Möbeln ausgestattet. Bett, Esstisch, Stühle, Liege, Klavier, Büchergestell, Fernseher. Und ich habe einen Computer. Da wohnt ein Mensch. Kein Geist.

Beantwortet das Deine Frage? Ansonsten hast Du ja nun meine Email.

Aline

Sarah King, 30. Oktober 2011

Abwesenheitsnotiz

Vom 01. bis 13. November kann ich meine E-Mails weder lesen noch bearbeiten. Ab Montag, den 14. November, werde ich zurücksein und die Korrespondenz wieder aufnehmen.

Mit freundlichen Grüssen
Gregor

Stephan Schoenholtz, 11. November 2011

Liebe Aline,

es ist schon spät. Eben erst bin ich zurück in die Wohnung gekommen. Der Briefkasten war leer, (amtliche Briefe zählen nicht), aber dann habe ich Deine Mail gefunden. Danke.

Der Ort, an dem ich die letzten zwei Wochen verbracht habe, würde Dir also vertrauter sein als mir. Die Hütte liegt in den Bergen wie eine Insel, umschlossen von Wiesen und Wäldern und Tieren. Kannst Du Dich an diesen Amerikaner erinnern, der in die Wildnis ging, vor 200 Jahren, um dort dem Leben auf den Grund zu gehen? So fühlte ich mich in dem Holzhäuschen, abgeschnitten von der Welt, die ich sonst kenne, in die Natur geworfen. Still war es da. Ich hörte mich selbst, alle Geräusche, die ich machte, sogar das Atmen. Als hätte mich jemand an einen Verstärker angeschlossen. War es so für Dich, als Du durch die leeren Zimmer gelaufen bist? Und ging es Dir auch so, nach einer Weile, dass es gar nicht mehr so still war und Du stattdessen überall Sachen zu hören anfingst, die Du vorher nicht beachtet hattest? Manchmal wusste ich nicht mehr, ob es mir eigentlich zu leise oder zu laut war…

Jedenfalls bin ich das nicht gewohnt, leere Räume. Ich war immer von Dingen umgeben, als Kind schon, und wenn ich Dir meine kleine Wohnung beschreiben müsste, würde ich vor allem von den Sachen darin sprechen. Jetzt gerade schaue ich auf den Fenstersims mit Steinen aus Ferien oder von Spaziergängen, nachher kommt das gebogene Wurzelstück dazu, das ich gestern gefunden habe. Ich habe dicke dunkelgrüne Vorhänge für die Nacht, und Kupferstiche an den Wänden, und Teppich unter den Füssen, irgendwie finde ich das beruhigend. Überall steht oder hängt oder liegt etwas. Auch Du hast ja zwei eingerichtete Zimmer. Du spielst Klavier? Entschuldige, alles geht etwas durcheinander, ich bin müde. Was ich Dir sagen wollte: diese Woche in der Hütte, die ich von meiner Grosstante geerbt habe, hat mir Angst gemacht, aber es war nicht nur schlimm, sondern irgendwie auch… Ich finde nicht das richtige Wort. Erleichternd, vielleicht. Verstehst Du vielleicht, was ich meine? Das hat mich überrascht. Und jetzt Deine Mail. Ich habe so viele Fragen an Dich. Und nein, Du hast meine erste Frage nicht beantwortet: können wir uns mal treffen und reden?                           

Herzlich,  

Gregor

Stephan Schoenholtz, 14. November 2011


e-Taste

Lieber Gregor

Nach dem Lesen Deiner Mail könnte ich schon fast eine Geschichte über Dich schreiben.

Nein, das von Dir Beschriebene ist mir fremd. Ich hatte noch nie das Gefühl, an einen Verstärker angeschlossen zu sein. Es war nicht lange still um mich herum. (Auch wenn es andersrum spannender ist für die Medien, aber ich hätte mich nicht alleine grossziehen können.) Da waren noch Einstein (eigentlich Erich Ingo Norbert Simon Theodor Erwin Igor Nötzli) und Kleopatra (eigentlich Helene Emmi, die irgendwann auf den Tisch klopfte und Einstein mit wütenden Augen anfunkelte: „Von Dir lass ich mich nicht länger an der Nase herumführen. Ich will sofort einen ordentlichen Namen, mit dem ich Dir standhalten kann!“) Zwischendurch gesellten sich noch Paprika (Einsteins Nichte), Paul (Helens Bruder) und Ana (eine Irin auf Durchreise) dazu. Uns alle verband die Suche nach meinen Eltern.

Deine Grosstante mit der Hütte erinnert mich übrigens an Kleopatra. Sie verbrachte ihre letzten Jahre auch irgendwo in den Bergen und ist ebenfalls vor kurzem gestorben. Eigentlich auf eine schöne Art. Sie kam zu Besuch und umschloss mein Gesicht mit ihren Händen: „Aline, da geht nichts mehr rein und nichts mehr raus!“ Sie küsste mich, als wolle sie mir den Rest ihres Lebensatems einhauchen, legte sich auf meine Liege, schlief ein und wachte nicht mehr auf. Ganz pragmatisch.

Und nein, ich spiele nicht Klavier. Dazu fehlt mir das Koordinationsvermögen. Eigentlich ist es kein Klavier, sondern ein Flügel. Er stand lange im Musikhaus. Jeden Donnerstagabend ging ich vorbei, um die mittlere e-Taste zu drücken.

Schon auf dem Weg vom Bahnhof zum Musikhaus spürte ich jeweils das leichte Kribbeln im Kopf, unter den Lauben wurde mir dann warm und auf der Treppe in die Klavierabteilung hielt ich die Luft an, bis ich sah, dass der Flügel noch da war. Ich weiss nicht, ob Du Dich auskennst mit Flügeln, aber dieser ist so liebenswert, wie eben ein Objekt liebenswert sein kann. Ein Steinway aus ostindischem Palisander, 188 cm, farblich ähnlich wie Mahagony, mit seidenem Lack überzogen. Da ich immer nur einen Ton spielte, sah der Verkäufer in mir keine ernsthafte Kaufinteressentin. Aber er erahnte wohl meine besondere Zuneigung zu dem Instrument. Irgendwann, als mein e verklungen war, setzte er sich an den Flügel und spielte. Mit „offenem Verdeck“. Der Klang setzte alle meine Sinne ausser Gefecht. Ich stand da wie in Trance. Sein Stück nach meinem e wurde für die nächsten paar Wochen zu unserem Ritual.

Ja und dann war da plötzlich mal einer an „meinem“ Flügel und wollte gerade sein Interesse bekunden. Ich ging hin und sagte: „Sie sitzen an fremdem Eigentum.“ Huch, das gab Zoff. Der Mann glaubte mir nicht, der Verkäufer auch nicht und ich mir selbst am wenigsten. Aber da war es schon zu spät. Das eine ergab das andere: Zuerst hatte ich den Kaufvertrag im Haus, dann den Flügel und schliesslich den Mann, der den Stein ins Rollen gebracht hatte. Er nutzt den Flügel nun jeden Donnerstag zum Üben, und ich drück an den restlichen Tagen die e-Taste und schule mein Gehör (ich bin Klavierstimmerin).

So. Ich denke, nun ist es an Dir, ob diese Infos noch in die Geschichte passen, die Du Dir vorstellst. Wenn Du ein Treffen willst, kannst Du einfach spontan vorbei kommen, donnerstags bin ich immer zuhause. Ruf einfach vorher kurz an, damit ich Einstein rechtzeitig wegbringen kann. Wenn Fremde das Haus betreten, ist er manchmal unberechenbar. Dem letzten hat er ein Auge ausgestochen.

Worüber und für wen schreibst Du eigentlich?

Lieber Gruss

Aline

Sarah King, 18. November 2011


Gregors Unentschiedenheit

Er faltet das Heft auf. Obwohl er den Kugelschreiber bereits in der Hand hält, beginnt er nicht sofort zu schreiben.

Donnerstag, später Abend. Lauter Fragen. Ich habe Aline getroffen.

Er schaut auf den kleinen Reisewecker am Tischrand.

Vor drei Stunden haben wir uns vor ihrem dunkelgrünen Haus verabschiedet. Ich habe mich umgedreht und bin gegangen. Als ich zurückschaute, war sie schon wieder ins Haus gegangen. Ich fragte mich, ob sie mir von einem Fenster aus nachsah. Aber ihre Fenster, die wenigen, die nicht vom Efeu überwuchert sind, gehen alle zur Seeseite.

Es ist kein dunkles Haus. Ihre Zimmer sind hell, heller als meine. Die anderen Zimmer sind natürlich schattig, aber sie scheinen nicht zum Haus zu gehören. Ihre Wohnung erinnert mich an eine Lichtung mitten im Wald.

Soll ich ihr schreiben? Ich will nicht über sie schreiben. Ich möchte ihr einen Brief schreiben. Noch lieber würde ich sie anrufen.

Aline hat eine raue Stimme, etwas brüchig. Ihr Haar ist nicht glatt, sondern kräuselt sich bis auf ihre Schultern. Ihre Hände sind klein, beinahe rund.

Gregor legt den Stift aus der Hand.

Stephan Schoenholtz, 30. November 2011 

Die Nase

Aline hob die Lanze vom Boden auf und liess ihre Finger dem hölzernen Schaft entlang bis zur eisernen Spitze gleiten. Vier Jahre Gefängnis hatte sie Einstein eingebracht. Sie erinnerte sich an seine entsetzte Stimme. „Ich bin nicht gewalttätig! Das war zu unserem Schutz.“ Der Richter schüttelte den Kopf. Sie sass ganz hinten im Gerichtssaal und hoffte auf den Vorhang, den Applaus, die Verneigung der Schauspieler. Einstein trug ein violettes Seidenjacket, rote Fliege, rote Lederschuhe. Er drehte sich zu ihr um. „Denk an Deine Eltern.“ Sie nickte ihm zu. Kein Vorhang. Kein Applaus.

Das war vor fünfzehn Jahren. Jetzt Gregor. Wie ein Wiesel zischte Einstein durch den Flur geradewegs auf ihn zu. Zehn Zentimeter lagen zwischen Klinge und Brust. Abrupt hielt Einstein inne, blickte den Fremden mit weit aufgerissenen Augen an. „Du bist ...“, er wurde blass, liess die Lanze fallen, drehte sich wortlos um und verschwand.

„Was war das?“, war alles, was Gregor über die Lippen brachte. „Einstein.“ Sie ging in die Küche. „Du hast nicht angerufen“, rief sie ihm zu, während sie zwei Gläser mit Wasser füllte. „Ich wusste nicht, dass Deine Zeilen ernst gemeint waren.“

Er war nicht sehr gross. 1.72 vielleicht. Das dunkle Haar leicht gewellt. Die Nase bildete einen seltsamen Kontrast zum Rest des Gesichts. Breit, die Spitze leicht eingedrückt, rund, kräftige Flügel, einen feinen Höcker. Als wäre sie dort nur zu Gast. „Darf ich Deine Nase malen?“

Sie schwiegen, während sie zeichnete. „Wohnt Einstein hier?“ Sie schüttelte den Kopf. „Da draussen.“ Gregor stand auf, trat ans Fenster. „Da ist nur See.“ – „Im Boot, das am linken Steg befestigt ist.“ – „Ah ja. Es ist schön.“ Ein paar Striche noch und die Nase war vollendet. Aline blickte auf die Zeichnung. „Ja.“ Im Hintergrund übte der Klaviermann auf dem Flügel. Sie lauschten dem Spiel.

Sie begleitete ihn vor die Haustür. „Weißt Du schon genug für Deine Geschichte?“ Er runzelte die Stirn. „Ich weiss heute nicht mehr, was ich fragen wollte.“ Er reichte ihr die Hand zum Abschied. Eine Weile blickte sie ihm hinterher. Du spürst meinen Blick im Rücken, möchtest zurückschauen und Dich davon überzeugen. Stattdessen gehst Du weiter, weißt nicht, wohin mit Deinen beobachteten Armen und Beinen. Dreh Dich um, nur einmal, bitte, damit ich winken und mich abwenden kann.

Aline riss die Seite mit der gezeichneten Nase aus dem Zeichenblock. Er sprach von heute. Das schliesst ein Gestern und Morgen mit ein. Ein Gefühl von Freiheit beschlich sie. Als könne sie die Handlung seiner Geschichte bestimmen. Sie nahm einen Stift und schrieb unter die Zeichnung: Es ist Donnerstag, 19 Uhr. Ich freue mich über Deine Nase. Du schliesst Frauen aus Deinem Liebesleben aus. Du recherchierst nicht für eine Geschichte.

Sarah King, 7. Dezember 2011


Morgengedanken

Gregor wäscht sich die letzten Rasierschaumfetzen von der Wange. Während er das Gesicht trocknet, betrachtet er seine Nase im Spiegel. Er fragt sich, ob Alines Interesse daran ein gutes Zeichen ist. Er ist sich Blicke gewohnt, die innehalten, als seien sie über etwas in seinem Gesicht gestolpert. Zeichnen wollte sie noch nie jemand. Seltsamer Weise war er nicht verletzt gewesen, eher geschmeichelt. Die Vorzeichen haben sich umgekehrt, denkt Gregor: Aline hat ihn gezeichnet, er jedoch hat nicht über sie geschrieben. Keine Geschichte jedenfalls. Gregor hängt das Handtuch an den Haken. Wieso sollte er plötzlich zu schreiben beginnen? Er hat Aline getroffen, das Haus gesehen. „Weisst Du schon genug für Deine Geschichte?“ Eine schlichte Frage zum Abschied.    

Gregor geht in die Küche. Die Kaffeemaschine surrt, die Traumbilder kommen wieder. Er schwimmt, Einstein verfolgt ihn. In seinem Boot ist er hinter ihm her, die Lanze wie eine Harpune erhoben. Kapitän Ahab. Der See ist plötzlich klein, geschrumpft zu einem Pool hinter dem Haus. Trotzdem scheint der Beckenrand unendlich weit. Das vertraute Gefühl, wie die Kraft aus seinen Armen weicht. Hinter einer Scheibe im ersten Stock Aline, die zu ihnen hinuntersieht. Im nächsten Augenblick die Tasten unter seinen Fingern. Er sitzt am Flügel, neben ihm Einstein, sie spielen ein Duett. Aline lächelt ihnen zu. 

Das kann er nicht schreiben. Gregor giesst etwas Kaffee ab. Er ist sich bewusst, dass er zurückgehen muss. Und sei es nur um sich zu vergewissern, dass Alines Welt kein Traum ist. Er öffnet das Fenster weit. Es wird ein sonniger Tag werden.

Stephan Schoenholtz, 11. Dezember 2011

Das Blatt hat sich gewendet

Aline blinzelte. Es war seltsam ruhig. Nur die Möwenschreie durchbrachen die Stille. Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster und wärmten den Holzboden, der bei jedem ihrer Schritte leise knarzte. Hinter ihr schaltete sich der Radiowecker automatisch ein. Eine männliche Stimme las die Morgennachrichten. Ja, ja, ich bin wach, dachte Aline. Ein Gefühl von Unruhe ergriff sie. Im Wohnzimmer war nichts anders als sonst. Der Flügel stand an seinem gewohnten Platz. Sie drückte die e-Taste. Unveränderter Klang. Als sie sich umdrehte fiel ihr Blick an die Wand. Die Lanze fehlte. Aline ging in die Küche. Auf dem Tisch lag die Zeichnung mit Gregors Nase, mitten auf der Nase ein Glas mit vielen Zahnbürsten. Alle mit kleinen Pandas bedruckt. Einstein. Der Zahnbürsten-Verkäufer mit der roten Fliege aus der Apotheke. Aline ging zum Fenster. Ein paar Fischerboote tuckerten gemütlich auf den See hinaus. Das Boot am linken Steg war weg.

Sie setzte sich an den Tisch und nippte an ihrem Pfefferminztee. Hin und wieder warf sie einen Blick auf Gregors Nase. Dann wendete sie das Blatt, lehnte sich zurück und wartete.

Sarah King, 18. Dezember 2011 

Spontanes Zwischen-Hinundher

Es klingelt. Gregor steht vor der Tür.

Gregor: Hallo. Ich will nicht stören. Es ist nur - ich habe meine Nase bei dir vergessen.

Aline: Oh. Ich, also, ich kann sie Dir nicht mehr geben.  

Gregor: Aber ich brauche sie. Ein Mann ohne Nase... das ist wie...

Aline: Wie ein Mops?

Gregor: Genau. – Was hast Du mit ihr gemacht?

Aline: Ich habe sie mit einem Vorurteil versehen, das ich Dir lieber nicht unter die Nase halten möchte. Also unter die fehlende Nase. Quasi.

Gregor: Kann ich trotzdem reinkommen?

Aline: ((hält die Tür auf und lässt Gregor eintreten))

Gregor: ((folgt ihr die Treppe hinauf, schaut sich um)) Ist Dein Wachmann heute nicht da?

Aline: Heute bist Du sicher. Willst Du Kaffee? Tee?

Gregor: ((ist ihr in die Küche gefolgt, starrt auf die Zeichnung seiner Nase))

Aline: ((wird rot)) Ich habe wunderbaren Tee aus dem Teeladen, aus Afrika oder so, oder Marokko, wenn ich den jeweils koche, dann riecht die ganze Wohnung danach. Schau. ((drückt Gregor die Teeschachtel in die Hände))

Gregor: ((schaut Aline an, die Schachtel in den Händen)) Ich – probiere ich gerne. Danke.

Aline: Gut. ((legt beiläufig das Blatt mit der Zeichnung weg))

Trinken schweigend Tee.

Gregor: Die Geschichte, von der ich Dir erzählt habe. Die ich schreiben wollte. Ich glaube, daraus wird nichts. 

Aline: Ja. Und gleich sagst Du, dass Du Frauen aus Deinem Liebesleben ausschliesst, nur weil Du das auf der Zeichnung gelesen hast?

Gregor: ((verwirrt)) Nein. Nein, das wollte ich nicht sagen. – Aber die Zeichnung ist schon komisch.

Aline: Ok. Also. Lass uns die letzten paar Sätze zurückspulen. – Gregor, warum glaubst Du, dass aus der Geschichte nichts wird?

Gregor: Na ja. Ich habe so was noch nie gemacht. Geschichten schreiben. Bis jetzt.

Aline: Dann sitzt Du jetzt hier, um jetzt eine Geschichte zu beginnen?

Gregor: ((wird rot)) Also, nein, eigentlich nicht. Ich meine, das ist die Frage. Ich weiss es nicht.

Aline: Schau. Das war ein seltsamer Start. Du dachtest, Du findest in mir eine Frau, die nichts als Stille in und um sich hat und findest stattdessen eine Frau mit einem Wachhund an ihrer Seite, der Dir fast die Lanze in die Brust stösst. Dann kommst Du zu Besuch, siehst Deine gezeichnete Nase und meine Kommentare dazu, wir sitzen hier und wissen nicht was reden.

Schweigen.

Aline: Ich habe einen Vorschlag. Stell Dir vor, das IST die Geschichte. Und sie ist schon weit in die Zukunft vorgeplant. Was würdest Du an der Fortsetzung ändern, wenn Du jetzt die Gelegenheit dazu hättest?

Gregor: ((geplagt vom Gefühl wachsender Überforderung)) Wollen wir vielleicht einen Spaziergang machen?

Aline: ((lächelt))

Gregor: ((lächelt erleichtert zurück. Nimmt plötzlich Alines Hand))

Aline: ((geplagt vom Gefühl schlagartiger Überforderung)) Die Sonne scheint.

Gregor: ((lässt ihre Hand los, dreht den Kopf zum Fenster, steht auf, alles in einer schnellen Bewegung)) Ja. Gehen wir. 

Aline: ((bleibt sitzen)) Gregor, Einstein hat Dich gekannt. Woher?

Gregor: Weiss ich auch nicht. Ich hab ihn noch nie gesehen. Glaube ich. Hast Du ein Foto von ihm?

Aline: Nein. Ich mache keine Fotos. Aber ich habe ein paar Körperteile von ihm gezeichnet, falls Dir das etwas nützt.

Gregor: Ein Gesicht wäre nicht schlecht. Die anderen Körperteile weniger. ((wird wieder rot))

Aline: Ich zeichne keine ganzen Gesichter. Nur Nasen, Augen und Ohren.

Gregor: ((setzt sich wieder an den Tisch)) Ich hatte einen komischen Traum. Mit Einstein. Wir haben zusammen Klavier gespielt.

Aline: Im Ernst, Gregor. Ich fühle mich nicht wohl. Ich weiss nicht, was ich sagen soll, und mir kommt es vor, als wäre jedes Deiner Worte mindestens zweimal redigiert, bevor es rauskommt. Und ich selbst redigiere auch. Ich möchte das ganze jetzt mit Humor nehmen. Deine Nase gefällt mir. Ich stolpere immer darüber, wenn ich in Dein Gesicht schaue. Ich vermute, dass Du Dich in mich verliebst, und ich mich in Dich. Wir werden eine Beziehung eingehen, vielleicht sogar zusammenziehen. Aber wir werden uns dann auch wieder trennen, weil Du merkst, dass Du Dich eigentlich zu Deinem eigenen Geschlecht hingezogen fühlst.

Gregor: Gott, Aline, was redest Du?

Aline: Ich fantasiere jetzt ein bisschen.

Gregor: Machst Du so was öfters?

Aline: Fantasieren?

Gregor: Ja. Also, ich fantasiere auch viel... Aber... mehr so im Kopf.

Aline: Vielleicht wäre es für uns leichter, wenn Du nicht nur im Kopf fantasierst.

Gregor: ((schweigt)) Magst Du meine Nase wirklich?

Aline: Ja. Gehen wir jetzt spazieren? ((Streckt ihm ihre Hand hin.))

Gregor: ((Nimmt langsam ihre Hand und steht auf)) Ich mag Deine Hände.

Aline: Möchtest Du noch etwas sagen, das in die Geschichte kommt, bevor wir gehen?

Gregor: Nein. Lass uns einfach gehen. ((Er hält immer noch ihre Hand))

Stephan Schoenholtz, Sarah King, im Dialog, 18. Dezember 2011 

Arbeit

Gregor versucht sich zu konzentrieren. Heute ist sein Tag im Büro, er kann sich nicht erlauben, die Gedanken schweifen zu lassen. Die Wareneingänge betreffen fast ausschliesslich Teilchen, die so winzig sind, dass die Lieferscheine sich gigantisch gegen sie ausnehmen. Dabei gehören sie Geräten und Systemen früherer Generationen an, nehmen sich beinahe klobig aus gegenüber ihren Nachfahren. Gregor verzeichnet sie sorgfältig, tippt sie ein mit der Sicherheit, dass sie gebraucht werden, ein jedes von ihnen. Dazu muss er nicht auf die lange Liste mit Kundenanfragen und Bestellungen schauen. Als Gregor und Steffen ihr Geschäft planten, hatte ein Kollege aus dem Informatikstudium davon verächtlich als einer Art modernes Antiquariat gesprochen. Gregor findet die Bezeichnung  nicht falsch: die Einrichtung von Büro und Laden genügt modernsten Ansprüchen, das Material, mit dem sie arbeiten, ist, je nach Blickwinkel, beinahe antiquarisch. Sein Blick ruht schon eine Weile auf dem Scanner. Später, in der Pause. Dann wird er Einsteins Augen, Ohren und Nase einscannen und sie zu einem Gesicht zusammenfügen. Ein Phantombild erstellen. Er gibt den nächsten Artikel ein. Die Arbeit beruhigt ihn. Es wird viel über virtuelle Welten gesprochen, aber er fühlt sich der Wirklichkeit am Computer ganz nahe. Näher als in Alines verwunschenem Haus.     

Stephan Schoenholtz, 26. Dezember 2011


Fernverbindung

Es war kühl in diesen Tagen. Paul legte ein paar Holzscheite ins Feuer und hielt seine Hände nahe an die lodernden Flammen. Einstein sollte gleich eintreffen. Zwölf Jahre lag ihre letzte Begegnung zurück. Dann der Anruf. Kein Gruss, keine Floskeln, keine Fragen zum Befinden. Nur: „Wir haben ein Problem. Er ist da.“ Paul setzte sich und versuchte seine Gedanken zu ordnen. „Bist Du sicher?“ Ein Schnauben am anderen Ende. „Ich stand ihm Gegenüber, halte jetzt eine Kopie seiner Nase in den Händen und versichere Dir: Er ist es.“ – „Weiss er etwas? Oder Aline?“ – „Nein.“ Ein Rauschen störte die Fernverbindung. „Ich nehme den nächsten Zug", sagte Einstein. "Gegen 23 Uhr bin ich bei Dir.“ Dann hatte er grusslos aufgelegt.

Sarah King, 30.12.2011

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